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(Aus: Muschelhaufen Nr. 38; Auszug aus einem Brief, den Albert Vigoleis Thelen im
Dezember 1956 schrieb) die zeit im spital in tegernsee war
nicht schlecht, ich hatte ein zimmer für mich allein, alles war ja nur auf
ein paar tage berechnet. da ich bescheiden und still darniederlag, nannte man
mich auf der station „der stille dichter von zimmer 70“. die ärzte
unterhielten sich gerne mit mir, ich war in allem sehr folgsam, habe nie
etwas reklamiert, schön alle medizinen geschluckt (für 180 DM!) und auch nie
von der klingel am bett gebrauch gemacht. es sei dies, so sagte mir eine
schwester, eben die bescheidenheit der großen geister. in wirklichkeit war es die angst vor der
sich öffnenden tür, denn am liebsten war ich allein. meist kamen die ärzte zu
dritt, chef, erster assistent, zweiter assistent (eine ärztin, prinzessin zu
löwenstein, wertheim und freudenberg, tochter der alten fürstin, die mir mal
einen so rührenden brief über die insel geschrieben hat) und die
krankenschwester. sie bauten sich ranggemäß am bett auf und der Chef fragte:
was macht unser dichter? als er sich am ersten tage vorstellte,
wollte er wissen, ob wir verwandt seien, er heiße horst, aber seine
großmutter war eine thelen vom weinhaus thelen in köln. die habe ein
stipendium testamentarisch hinterlassen, von dessen geldern er zum teil sein
studium bestritten habe. wenn, entgegnete ich, familienbande vorhanden seien,
dann vielleicht über seinen eigenen namen, horst, und über […]. als da nichts
näheres zu ermitteln war, meinte er, daß eine geistige verwandtschaft
immerhin vorliege, die gehe über meine Bücher, ob er da freilich gleich, zur
vermeidung künftiger mißverständnisse, gestehen müsse, daß er von der „Insel“
bislang nur die unanständigen stellen gelesen habe, zeitmangel, 205 betten;
seine assistentin, die prinzessin, habe sie für ihn angekreuzt. – gute
zusammenarbeit, entgegnete ich, das lobe ich mir. dann setzte er sich auf mein bett und
ließ sich vom ersten assistenten, der mich tags zuvor untersucht hatte, meine
„krankengeschichte“ berichten, klopfte selbst ein wenig an zweifelhaften
stellen der aussage, stellte fragen, aber immer über den assistenten, und in
der dritten person: hat unser dichter störungen da und da? und die mandeln? –
die sind raus, sagte der assistent. – wie lange schon? – ein blick ins
papier: seit mehr als 4o jahren, der patient war damals 8 oder 10 Jahre alt.
– nach aussage...? – des patienten. – schön, kollege, und haben sie sich
überzeugt, ob sie wirklich raus sind? – da wurde der kollege rot, denn er
hatte mich nicht „a“ machen lassen, mein wort war ihm heilig. – schön, dann
wird unser dichter sie noch haben, denn merken sie sich, vor 40 jahren wurden
in deutschland keine mandeln herausgenommen, sie wurden nur „gekappt“. darf
ich den dichter bitten, mal „a“ zu machen? – zugleich fuhr er mir mit einer
holzspachtel in den hals, strich an den mandeln herum, daß ich fast gekotzt
hätte, hielt das stäbchen dem kollegen unter die nase und sagte: hier, und
stinken tun sie auch. vereitert. wenn unser dichter einverstanden ist, holen
wir das gleich mal raus. – ich: der dichter ist einverstanden. machen sie das
selbst? – er: nein, gott bewahre, dafür haben wir einen famosen mann. bitte,
kollege, veranlassen sie das notwendige, und so rasch wie möglich. zehn jahre
oder mehr schon läuft unser dichter mit dieser infektion herum. das andere
finden wir auch noch. nur geduld. andern tags saß ich schon früh auf dem
operationsstuhl, vor mir der famose mann mit den langen nadeln. dieser sagte
nur: mein herr, eine mandeloperation in ihrem alter ist ekelhaft, aber
keineswegs dazu da, helden zu erziehen, melden sie sich durch einen schlag
auf mein knie, wenn's noch weh tut. – ich: heldentum ist überall lächerlich,
aber schlagen werde ich nicht, denn dann rutscht ihnen das messer aus. bin
nämlich feiger, als sie denken. – dann blickte ich ihm fest in die lange
nadel und er stach zu: doch hatte seine assistentin schon meinen kopf an
ihren zusätzlich betäubenden busen gedrückt und der stich war geschehen. dann
kamen noch viele drum herum, später spürte
ich auch den busen nicht mehr, alles war wie tot. übrigens werden mandeln
herausgenommen wie die hoden beim hahn, mit demselben kapaunisierbesteck.
doch statt die dinger nachher auf den mist zu schmeißen, wo der hahn sie in geiler gier selber auffrißt, unwissend, daß es nun aus ist mit
dem herrisch-lüsternen miststehen, strich der famose mann sie auf keimfreiem
papier ab. dann packte man mich in ein wägelchen und fuhr mich auf mein
zimmer hinauf. 6 tage schweiggebot, es war wie exerzitien bei den trappisten.
die unterhaltung mit dem ärztestab geschah per zeichen und schriftlich. die
zettelchen haben sie sich alle auserbeten, um die in meine bücher zu kleben.
denn alle hatten sie mich ganz oder teilweise gelesen. da ich mich mit meinem
bürgerlichen namen eingetragen hatte, kamen einige erst spät dahinter, so der
mandelmann und der röntgenarzt; sind sie etwa die insel des zweiten gesichts?
– das buch steht auf meinem namen. – aber mein herr, warum haben sie mir das
nicht eher gesagt? – so fragte der mandelmann. ich: hätten sie mir, es
wissend, dann etwa zusätzlich noch etwas anderes herauskapaunisiert? setzen
sie sich dieserhalb bitte mit dem chefarzt in verbindung. ich habe hier über
mich nichts zu sagen. und so weiter. die nonne wußte manchmal
nicht, wohin sie blicken sollte. aber die sind schließlich auch vieles
gewöhnt. auch der augenarzt, der am zweiten tag
nach der mandelkastration zugezogen wurde, sagte: insel des zweiten gesichts?
er hat dann herausgefunden, was mir fehlt. das ist verzwickt, ob auch im
prinzip einfach: meine beiden augen arbeiten nicht zusammen, jedes schaut
woanders hin, ohne daß ich schielte. man kann es nur mit einem apparat
feststellen. beim lesen gibt das rasch eine verteufelte ermüdung mit schmerzen,
die man sonst nur bei gehirntumor hat. deshalb bin ich trotzdem noch
gründlich auf so ein geschwür untersucht worden, mit teuren serumanalysen,
die in bonn gemacht worden sind. andere, nicht weniger teure, wurden in
würzburg gemacht. unser dichter war eben ein wrack. nun gehe ich 2x in der woche nach
bellinzone zu einem augenarzt, der einen apparat hat, an dem ich üben muß. es
geht schon besser. wären die schweizer ärzte dahinter gekommen, dann hätte
ich mir viele 100te (hunderte) franken sparen können. ob es ganz zu beheben
ist, weiß man noch nicht... Vigoleis als Erzähler (von Peter Koch, veröffentlicht im Muschelhaufen Nr. 38/1999 unter
„Thelen-Marginalien“) Kennengelernt haben meine Frau
Johanna und ich Thelens über unseren allzu früh verstorbenen Freund Heiner
Keitel, der 1956 vielbeachtete Cellokonzerte im Tessin gegeben hatte und auch
in die Rocca Vispa bei Ascona eingeladen war. Im Sommer 1957 vertonte ich
sieben Gesänge aus Thelens TRAGELAPH für Bariton, Flöte, Viola und
Violoncello. Die sich daran anbahnende Freundschaft vertiefte sich im
September 1958 in Hüde am Dümmer, wo Heiners Schwiegereltern ein
Feriendomizil besaßen. Vigoleis fuhr mit mir eines frühen Nachmittags in
meinem Goggo ins nahe Diepholz, um dort ein Tonbandgerät auszuleihen. Unser
Vorhaben stellte sich als umständlich heraus, gelang aber schließlich. Zurück
in Hüde, wo man lange gewartet hatte, begann Vigoleis aus dem Stegreif ins
Mikrophon zu fabulieren. Die INSEL DES ZWEITEN GESICHTS
hatte in mir hohe Erwartungen geweckt. Was würde jetzt kommen? Die Fahrt nach Diepholz geriet zum
einzigen Gegenstand einer langen, vielgewundenen Erzählung. Was für mich
belanglose, fast lästige Vorgänge einer verzögerten Ausleihe waren,
entfaltete sich in seinem Köpf zu einer einmaligen Begebenheit, prall
geschildert in lebhaften Farben. Da war vom Zwiebelziehen die Rede und vom
Friedhofsgang einer alten Frau, die zwischen Laden, Garten und Grabkreuzen
hin und her eilte, mit der modernen Tontechnik nicht zurechtkam, überfordert,
bedauernswert, so daß Vigoleis an Kabeln, Knöpfen, Reglern selbst tätig
werden mußte. Da ging es um die Schuckelei über holprige Wege unter
wechselndem Gewölk zurück zum verwunschenen strohgedeckten Fischerhäuschen:
Einzelheiten über Einzelheiten, eigenwillig beobachtet und in unausdenkbare
Zusammenhänge gerückt. Ich sperrte Mund und Nase auf, weil ich
von all dem kaum etwas mitbekommen hatte. Da steigt man also dahinter, was
sich Don Vigo so zusammenphantasiert? Aber nein, jedes Detail stimmte. Mir
fiel es wie Schuppen von den Augen, der ich blind gewesen war für die
verborgene Spannung, aber auch Komik der Situationen. Und dann diese Kraft
und Eigenart der Sprache des Dichters, die sich in vollendeten Sätzen vor uns
ausbreitete, als ob unablässig daran gefeilt worden sei! Auch in späteren Jahren hat Vigoleis
faszinierend erzählt und erzählt, ob in unserem Wohnwagen vor unseren
Kindern, die an seinen Lippen hingen, während er im Eifer immer wieder von
den Polstern rutschte; ob in La Colline sur Vevey; ob in der Isabelle de Montolieu
bei Lausanne oder zuletzt in Dülken. Aber zu den stärkstn Eindrücken zählen
die frühen vom Dümmer, die so recht seine Genialität offenbarten. Und das
Tonband? Es scheint auf immer verloren, verloren wie so manche von ihm in den
Wind geschriebene Zeile, die vielleicht doch eines Tages wieder angeweht
kommt. Albert Vigoleis Thelen
schickte hin und wieder an Peter Koch „Gelegenheits-gedichte“, so auch das
folgende, datiert vom 7.9.1971: Halb-orphische Kartoffel-Hymne von Albert Vigoleis Thelen Wenn Kartoffeln statt Kartoffeln lauter Bundes-D-Mark
keimen die sich dann auf
Rotwein reimen bin ich gerne wie ein Stoffel unter dem Pantoffel der Kartoffel. Doch wenn die
Kartoffel selber Stoffel unter dem Pantoffel der Naturgesetze
bleibt und statt Münze nur Kartoffeln und Kartoffeln und Kartoffeln und so weiter
treibt: dann schmeißt
Schreiber dieses ohne groß' Gemoffel den Pantoffel zur Kartoffel und sie beide auf den Mist was für solche grobe
Roffel noch die beste
Stätte ist. Zugegeben: auf dem
Speisetische eines Dichters von
Format sieht man sie in
geiler Frische, die Kartoffel, –
freilich ohne Saat. Keime in die Leere
ranken, oben sprießt das
Schweizerkreuz, ohne goldgedeckte
Franken – ein Gespeuz, überkrönt, indes,
von deutscher Mark, ha! wie steht der
Dichter stark, dieser Anti-Stoffel, angesichts der
Symbiose mit der
Reichs-Kartoffel, die zu fressen er
sich weigert, was nur seine
Selbheit steigert. Ergo, die Moral von
der Geschicht: Schmähe die
Kartoffel nicht, denn sie kann dir ja
bescheren, was ansonst du mußt
entbehren. 1987 erinnerte
sich Thelen an das Kartoffelgedicht, aber Peter Koch konnte es nicht mehr
finden. Stattdessen schrieb er selbst ein Gedicht „Don Vigo und die
Kartoffel“, vertonte es und schickte es ihm ersatzweise zu. Hier der Beginn: Don Vigo und die
Kartoffel von Peter Koch Don
Vigo liebt den roten Wein, liebt
Reben an dem Sonnenhügel, sagt
zum Kartoffelschnaps nur: nein! |:
und steigt in Pegarossens Bügel. :| (Weiteres hier in Vorbereitung!)
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