Aus dem Muschelhaufen Nr. 39/40: „Kann ein Text, der 1953 anläßlich des 90. Geburtstags von Henry van de Velde geschrieben wurde, heute noch von Interesse sein? Wenn er von Albert Vigoleis Thelen stammt – und zudem voll gespickt mit autobiographischen Episoden ist –, dann darf man es erwarten.“ (Der folgende Text erschien in den Niederlanden.)

 

Eine Begegnung mit Henry van de Velde

geschrieben in Amsterdam zum 90. Geburtstag des Baumeisters

von

Albert Vigoleis Thelen

 

„Ich behaupte, daß ich nichts entdeckt habe, es sei denn, daß eine Entdeckung in der Erkenntnis liegt, daß es vollauf genügt, ein vernünftiger Mensch zu sein.“ H.v.d.V.

 

Am 3. April 1953, Karfreitag, wird der belgische Baumeister und Kunstgewerbler Henry van de Velde kaum dazu kommen, auch nur eine Seite dem Manuskript seiner Lebenserinnerungen hinzuzufügen, das schon auf 5000 Seiten angewachsen ist. Dann ruht die unermüdliche Feder, und der Bungalow von Haus Lohmatt in Oberägeri bei Zug, wo der Professor seit einigen Jahren lebt, wird zu klein sein, die von nah und fern herbeiströmenden Freunde und Verehrer zu fassen. An diesem Tage begeht der Meister ein dreifaches Fest: seinen 90. Geburtstag, sein goldenes Professorjubiläum und, das schönste, wieder einen Tag seiner immergrünen, ewigen Jugend.

         Namentlich in Deutschland, dem Ausgangspunkt seiner internationalen Wirkung, werden berufenere Federn als die meine in Bewegung gesetzt werden, die Verdienste dieses genialen Mannes ins rechte Licht zu rücken, vor allem in einer Zeit, wo das Spezialistentum zur Mißwende aller freien künstlerischen Entfaltung geworden ist, – und gerade van de Velde war jedem Sondertum abhold. Er kenne kein Spezialgebiet, sagte Bodenhausen von ihm, derselbe Bodenhausen, der 1897 van de Velde den modernsten Künstler nannte. Auch die van Gogh-Feiern bieten den Berufenen mehr als eine Gelegenheit, unseren Jubilar in ihre Betrachtungen einzubeziehen. Ich nenne nur ein paar Namen in diesem Sinne: Gauguin, Bing, Meier-Graefe. Selbst will ich ein paar persönliche Bemerkungen zu diesem Tage beisteuern.

         Im selben Jahre, wo van de Veldes Freund und Gönner, Graf Harry Keßler, den Deutschen Künstlerbund ins Leben rief, 1903, wurde ich in einem Hause geboren, das in aller Hast unter Dach gebracht werden mußte vor dem Einbrechen des Winters und vor der Niederkunft meiner Mutter. Es war natürlich ein echt deutsches Jugendstil-Haus, mit schrecklichen Ornamentgekrösen am blinden Giebel, gekrönt mit einem lächerlichen Klotz, der nicht einmal einen Storch zum Nisten verlocken konnte. Die Türen und sonstiges Getäfer waren gemasert. Der Architekt hatte meinen in aestheticis vollkommen unbescholtenen Vater, der wie alle Väter jener Tage seinen Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart zwirbelte, dazu gebracht, das exotische Holz durch einen Maserkünstler bombastisch aufwerten zu lassen, eine Sünde wider die Natur, die, wie ich später an Hand der Baurechnungen feststellen konnte, mehr gekostet hat als das ganze Holz zusammen. In dieser Welt des Scheins, der Widersprüche, der Verwilderung ästhetischer Begriffe, von Schund, der nicht einmal durch die große Schundallüre ähnlicher Jugendstilsünden überhöht wurde, bin ich aufgewachsen. Kein Wunder, daß ich mich schon früh mit diesbezüglichen Problemen beschäftigte und daß auch der Name van de Velde mir ein Begriff wurde, wie das so schön heißt. Es konnte also anders sein! Ehe ich indessen, von meinen Brüdern unterstützt, den inzwischen schon entschneuzten und entkaiserten Vater dazu bringen konnte, nun auch den Stuck von den Wänden abzuschlagen und das in seiner Natürlichkeit schöner durchfaserte Holz vom Anstrich zu befreien, hatte ich mich schon entschlossen, Deutschland für immer zu verlassen.

         Nach manchem Umschweif landete ich auf der Insel Mallorca, wo ich mich in einer anderen Umwelt mit anderen Maserungen und Stucksünden niederließ. Dort lernte ich einige Jahre später einen der größten Mäzenaten der internationalen Kunstwelt kennen, den Grafen Harry Keßler, der 1933 vor den Nazis die Flucht ergriff. Wir freundeten uns an, und ich wurde sein, übrigens letzter, Sekretär. Keßler lebte sehr zurückgezogen auf der Insel, wo er an seinen auf vier Bände berechneten Memoiren „Gesichter und Zeiten“ schrieb. Leider hat nur der 1. Band, „Völker und Vaterländer“, erscheinen können.

         Graf Keßler, der Mann dreier Vaterländer, litt stark unter dem Phänomen des Heimwehs, und vor allem um die Weihnachtszeit kann das einem Menschen, der am stärksten sein deutsches Wesen betont hat, fatal werden. Die Selbstmordgipfel in den Todesstatistiken der heiligen Nacht sind nicht weniger bekannt als die berühmten Säuglingsgipfel 9 Monate nach dem Kölner Karneval. Den heiligen Abend des Jahres 1934 verbrachte Graf Keßler in unserer dürftigen Behausung in Palma. In tiefe Melancholie eingesponnen war er gegen vier gekommen, um noch ein paar Briefe zu diktieren und die laufenden Arbeiten am Manuskript, das ich abtippen mußte, zu besprechen. Er schämte sich seines Heimwehs keineswegs.

         Einen Weihnachtsbaum hatten wir nicht, doch ich hätte kein wie auch immer entwurzelter und entarteter Deutscher sein müssen, um nicht für einen Ersatz Sorge getragen zu haben, der dann, auch das sei zu meiner Schande gesagt, gewisse Neigungen zum Monumentalen erkennen ließ. Man verleugnet sein Nest schließlich nicht. Ich hatte eine riesige Mutterpalette des ordinären Feigenkaktus (opuntia cochenillifera) mit einem einzigen schräg oben herausgewachsenen Schösser als Christkaktus in den sinnig drapierten Mülleimer gepflanzt. Dünne, selbstgezogene Lichter waren auf die Nadeln gesteckt – ein überraschender Anblick, der Krippe von Bethlehem in seinem südlichen Zauberschein sicher näherstehend als eine echte deutsche Weihnachtstanne.

         Graf Keßler wurde fröhlich wie ein Kind, als er diese Improvisation erblickte. „Das müßte van de Velde sehen!“, rief er begeistert, „das wäre etwas nach seinem Herzen!“ Verflogen war die melancholia natalis, um allerdings durch ein Hintertürchen wieder herein zu kommen, sei es auch mit einem anderen Gesicht: der demokratische Graf verlor sich in Erinnerungen an seine Freundschaft mit dem belgischen Erneuerer der Wohnkunst, an die großen und bestimmenden Jahre in Weimar, an Bodenhausen, Osthaus, Bing, Cassirer; Hoffnungen, Enttäuschungen, nie zur Ausführung gelangte Pläne – Dinge, die mir zum Teil aus anderen Gesprächen über den Aufbau seiner Erinnerungsbände bekannt waren. Eine Zeit wurde aufgerufen, die um die Jahrhundertwende Deutschland und Europa ihren Stempel aufgedrückt hat, um nicht zu sagen: sie verwandelte ihr Gesicht. Wer sich heutzutage noch einmal in jene Epoche vertieft, in die Manifeste und Schriften van de Veldes, Keßlers, des Freiherrn Eberhard von Bodenhausen, in die Hefte der „Innendekoration“, die prächtigen Nummern der Zeitschrift „Pan“, in die Bestrebungen des Pankreises überhaupt (worüber in Bälde eine Monographie aus der zuständigen Feder K. H. Salzmanns zu erwarten ist), der muß, wie Keßler damals beim Licht des Christkaktus, melancholisch werden: welch eine Zeit!

         Mir ist es wieder so ergangen, kürzlich, als ich im Zusammenhang mit einem Buch eigener Erinnerungen, in dem einige Kapitel den letzten Lebensjahren des Grafen Keßler in seinem Exil gewidmet sind, eine Fülle von Werken über jene Zeit wieder lesen mußte. Welche glückliche Ära, welch eine, man ist versucht zu sagen einmalige Verbindung von Multimillionär und künstlerischem Geschmack, feinster Erziehung und Draufgängertum. Bodenhausen, Osthaus, die beide für van de Velde so schicksalhaft im höchsten Sinne geworden sind, und selbst der K.K. Hoffriseur Haby in Berlin muß da genannt werden, der 1901 seinen „Frisiersalon“ von van de Velde ausgestalten ließ. Heute, ein halbes Saeculum nach jenem Wagnis, könnte er sich noch sehen lassen neben jedem modernen Salon in welcher Weltstadt immer. Damals soll diese Ausstattung das böse Wort haben aufkommen lassen, man hinge sich schließlich seine Eingeweide nicht als Zierrat um den Hals. Heute hängt sich der moderne Mensch noch ganz anderes um seine Existenz.

         Aber auch Vergnügen habe ich gehabt beim Blättern in den alten Bänden. Diese, Unmittelbarkeit im Kampf gegen den Ungeist, das Unwesen der Architektur in den Manifesten van de Veldes! Und hellauf mußte ich lachen, und das noch an einer so wenig lachmütigen Stätte, wie es der Lesesaal im Rijksmuseum ist, als ich an die folgende Stelle kam, im Aufsatz „Über Entwurf und Bau moderner Möbel“ (Heft 4, Jhrg. 1897, Pan), wo van de Velde sich Luft macht über die „Vernunftfinsternis“, die die Welt beherrscht: „Wir sind dahin gelangt, daß wir die widersinnigsten Dinge als vernünftig und die vernünftigsten als wahnwitzig ansehen. Ich habe z. B. Gelegenheit, immer wieder folgendes Begebnis zu beobachten. Ich habe das Glück gehabt, mir selber ein Haus bauen zu dürfen. (Schreiber ds. erlaubt sich hinzuzufügen: außer Glück auch den Mut, denn welcher Architekt wagt es, in einem selbstgebauten Hause sein Leben zu verbringen?) Dieses einfache Haus erweckt, wenn Leichenzüge daran vorüberkommen, jedesmal unter den Leidtragenden eine plötzliche und unwiderstehliche Heiterkeit. Und doch unterscheidet es sich von denen, die daneben stehen, lediglich dadurch, daß es sehr bescheiden, nur durchaus logisch gebaut ist und nicht den geringsten Schmuck aufweist. Ein anderes dahinter mit phantastischen Masken und einem angebauten und völlig unnützen Turm erscheint als das vernunftgemäße Haus, und meines als das wahnsinnige.“

         Wer denkt bei einer solchen Passage nicht an gewisse Stellen aus den Briefen van Goghs? Gemeint ist des Meisters berühmt gewordenes Eigenhaus in Uccle bei Brüssel, „Bloemenwerf“, wo er zuerst die Begriffe seines neuen zukunftsträchtigen Stils in allen Linien und Gegenlinien erproben konnte.

         Dieser Versuch eines Autodidakten machte ihn zum Baumeister. Denn man erinnere sich, daß van de Velde als Maler begann. Das war 1895. Das Holz wurde nicht mehr gemasert – eine Revolution allein dies schon. Mich trifft aber die Aufheiterung der Leichengänger besonders. Ich sehe darin eine soziale Tat, wo das Soziale ja bei van de Velde und seinem Kreis sehr im Vordergrund der Bestrebungen gestanden hat, ja diese ohne jene Tendenzen überhaupt nicht erklärt werden können. Daß Menschen hinter einem Leichenwagen für sei es auch nur wenige Augenblicke ihren Schmerz vergessen, ohne zur Pulle zu greifen, ist eine Leistung, auf die der Künstler stolz sein darf.

         Besonders fesselt mich an den Schöpfungen van de Veldes das Problem der komplementären Linie, die Frage des „Umraums“, der beginnt, wo die lineare Umgrenzung, eines Möbels z.B., aufhört und wo es auch bei den meisten Entwerfern überhaupt mit der Kunst sein Ende hat. Der Mensch ist ja ein Wesen, das immer noch nichts mit sich anzufangen weiß. Er nennt sich gerne sapiens, aber nach Tausenden von Jahren sapientia ist er nicht einmal dahinter gekommen, was eigentlich die ihm zuträglichste Ernährungsweise ist, so daß immer wieder Speisepropheten auftauchen und die Zwiebel, den Käse oder geschlossene vegetarische Systeme predigen. Und dieser selbe Mensch weiß auch noch nicht, welches die ihm gemäße Art der Behausung ist, ob auch da wieder Jahrtausende vergangen sind, seit er aus seiner Neander-Chrysalide ausgeflogen ist, in einer tragischen Stunde, deren Erinnerung er gerne verdrängt. Ausgeflogen aus der einen Höhle in die andere, aber eine bessere? Ich frage mich.

         Mir scheint dasjenige Haus für den Menschen das arteigenste zu sein, worin er leben kann wie ein Tier in seinem Loch, das heißt in einer völligen Anpassung an seine Umhöhle, 100% „op zijn gemak“, wie der Holländer sagt. Nur denkfaule und zoologisch wenig einfühlsame Menschen können das Wort nachplappern vom Menschen, der wie ein Tier in seiner Höhle lebe, und damit meinen sie: miserabel. Das Tier aber weiß, welches Nest ihm behagt. Van de Velde hat in diesem organischen Sinne gestrebt und vieles erreicht. Der „Hohenhof“ in Hagen, dem Bauherrn, dem Folkwang-Osthaus im wahrsten Sinne des Wortes um das Sein gebaut, ist so vom Keller bis zum Söller, vom Taubenschlag bis auf den Brieföffner in einem , seinem, Geiste durchgebildet, und vielleicht die vollkommenste Schöpfung des Meisters, der natürlich auch die Gedecke entwarf und die Kleider der Hausfrau.

         Wer erinnert sich noch an diese Zeit? An die Jahre, wo van de Velde in Weimar durch Eberhard von Bodenhausen und Harry Keßler bei Hofe eingeführt wurde, wo er im vertrauten Umgang mit Nietzsches Schwester die Pläne zum Nietzsche-Archiv entwarf, wo er in der Goethestadt auf den Händen getragen wurde? Keßler wollte Weimar zum zweiten Male zum geistigen und kulturellen Mittelpunkt von Deutschland, ja selbst Europa machen, und er war der rechte Mann dazu: hochbegabt, reich, eine Künstlernatur, der auch die richtigen Leute zu finden wußte. Ein van de Velde konnte ihm nur wie aus dem Himmel gefallen erscheinen. Osthaus erzählt, daß der belgische Erneuerer in Weimar so empfangen wurde, wie Karl August seinen Goethe mochte eingeführt haben.

         Und dieser berühmte Mann, lebte er noch? Ich lese oft jahrelang keine Zeitung, und Zeitschriften kriege ich fast nie zu Gesicht – ein Höhlenmensch in einer Weltstadt, oder auf dem Lande, den die Welt erst zu interessieren beginnt, wenn höhere Mächte ihm den Stuhl unter der Existenz wegziehen. So traf es mich besonders, im vergangenen Sommer, in Locarno, was mir die Witwe des Freiherrn von Bodenhausen, die berühmte „Dora“, beiläufig schrieb: auf meiner Rückreise nach Amsterdam solle ich nicht versäumen, ihren alten Freund Professor Henry van de Velde in Oberägeri aufzusuchen. Sicher sei der Meister an allem interessiert, für seine Memoiren, was ich über die letzten Lebensjahre des gemeinsamen Freundes Harry Keßler zu berichten wisse.

         Hier muß ich folgendes einflechten: Keßlers literarischer Nachlaß gilt seit seinem Tode (1937) als verschollen. Die Erben haben sich nicht darum gekümmert. Der Krieg hat das seine dazu beigetragen, daß der Name in Vergessenheit geraten konnte. Durch einen Aufruf im Börsenblatt ist im vergangenen Jahr die Angelegenheit wieder in Bewegung gekommen. Ich habe mich gemeldet und dem vermittelnden Dr. Salzmann in Berlin berichtet, daß sich unter den Trümmern meiner spanischen Existenz die Durchschriften seiner Manuskripte befinden, Band 2 abgeschlossen, Band 3 auf viele Kapitel gediehen. Dutzende Briefe sind hin und her gegangen, Interessenten melden sich, aber bis jetzt ist es nicht gelungen, jemanden zu finden, der mir eine Fahndungsreise nach Mallorca ermöglicht, um die Schätze zu heben. In dieser Sache gelangte auch die Baronin Bodenhausen an mich, da sie für die Herausgabe des Briefwechsels zwischen Bodenhausen und Hugo von Hofmannsthal ebenfalls an Keßler interessiert ist.

         Henry van de Velde lebte also noch! Dann mußte er uralt sein, dachte ich. Doch weit gefehlt, mit 90 Jahren ist er noch so jung wie der Gott in Weimar. Ich schrieb ihm, er antwortete, ein paar telephonische Gespräche, und eine Begegnung in Zug wurde vereinbart. Aus Mangel an Devisen konnte ich mir den kleinen Abstecher nach Oberägeri nicht einmal mehr erlauben. Aber der Professor meinte, dann käme er nach Zug, woraus ich schloß, daß er auch kerngesund sein müsse.

Als der Zug gegen Mittag in Zug einlief, befand sich niemand auf dem Bahnsteig außer dem Sta tionsvorsteher, einem Dienstmann, und einem alten Herrn in einem wunderbaren Reißverschlußkostüm, der in der Hand ein Buch trug, das mir vertraut war: Keßlers „Völker und Vaterländer“. Eine Dame begleitete ihn, also seine Tochter, wie er mir mitgeteilt hatte. So konnte ich schon aus dem Abteil ihm zuwinken, weitere Kennzeichen brauchte ich doch nicht, nicht einmal die schöne Kolbe-Büste, die mir vor dem Geist schwebte: der gewaltige Kopf mit der kühnen Nase. Dennoch war dieser organische Künstler, der um eine Schraube einen Stuhl, um den Stuhl einen Tisch, um den Tisch ein Zimmer und um das Zimmer ein ganzes Haus baut mitsamt dem geistigen Habitus, – er war ehrlich getroffen über mein Stählchen Einblick in die natürlichen Zusammenhänge: „Wie haben Sie mich hier so rasch herausgefunden!“

         Ich sagte ihm etwas eingeschüchtert, daß dies mein kleiner Hilpersgriff im Umgang mit Menschen sei. Wer auf Betreiben seiner „Dora“ kam, konnte seiner Sympathie gewiß sein. Dennoch nahm mich der Professor beiseite und fragte, ob ich ein Journalist sei. Ich verneinte, doch was ich wirklich sei, wisse ich nicht. Das stand auch fürder nicht zur Diskussion. Selbviert – meine Frau war auch mitgekommen – fuhren wir nach einem exklusiven Restaurant, wo oben in einem Separee gedeckt war. Jugendstil, wohin das Auge blickte, einzig die Saaltochter fiel mit ihrer stillosen Jugend aus dem Rahmen. Nur zwei Tische standen da. Am anderen saßen Schweizer Offiziere, vermutlich höchste Chargen vom Generalstab, in ihren schrecklich steifen und phantasielosen, ur- und anti-van de Veldischen Kostümen, die die Neutralität solch kriegerischer Scheinhüllen offenbarten.

         Das Mahl war königlich, der Wein ausgezeichnet, die Unterhaltung, aus dem Französischen ins Deutsche und dann ins Holländische spielend, sehr angeregt. Van de Velde ist ein charmanter Causeur, doch auch ein aufmerksamer Zuhörer. Zwischen unseren Gedecken lag Keßlers Erinnerungsband. Was ich über die letzten Jahre der Verbannung zu erzählen hatte, traf den Professor sehr: Harry, arm in einem primitiven Häuschen in Genova bei Palma an einem winzigen halbrunden Dienstmädchentische sitzend, über sein Manuskript gebeugt – der Mann, der in Weimar sein von van de Velde eingerichtetes Haus an der Cranachstraße 15 hatte, wo die erlauchtesten Geister der Kunst und Wissenschaft aus- und eingingen, der eine nicht weniger berühmte, auch von Henry eingerichtete Wohnung in Berlin an der Köthenerstraße innegehabt... sic transit gloria mundi.

         Am späten Mittag sind wir auf dem Wege zum Bahnhof Arm in Arm über den Zuger Markt gezogen, wo gerade Kirmes war. Ein feiner Regen ging nieder, es kümmerte den greisen Künstler nicht. Ja, seine Tochter hatte alle Mühe, den Papa davon abzuhalten, mit mir eine Runde auf den Pferdchen einer Kinderringelbahn zu machen. Pantagruelisch und voll Freude über das bunte Bild wollte van de Velde auch da seine ewige Jugend beweisen.

         Täglich erwartet man seinen Besuch hier in Holland, in seinem Kröller-Müller-Museum zu Otterlo. Dann kommt er auch nach Amsterdam, und wir gehen wieder Arm in Arm über die Straße und sicher im Regen, aber nicht auf die Kirmes. Ich möchte mit dem großen Meister zum Waterlooplein, dem Altbüßermarkt von Amsterdam. Vielleicht finden wir da eine Schraube aus zweiter Hand, um die herum er mir dann ein Haus bauen könnte im Geiste seiner Linie und seiner ewigen Jugend, die auch, mit einem Unterscheid zwar von zwei Generationen, die meine ist, und worin ich dann endlich einmal „vernünftig“ wohnen kann.

 

 

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