Albert Vigoleis Thelen:
Eieruhrgedichte
„Es sind dies parodistische Travestien, oder travestierte Parodien auf die
höchstmoderne Lyrik, und diese meinige lebt obendrein noch aus sich selbst
und in sich selbst.“ (Albert Vigoleis Thelen im Brief vom 3.1.1972 an Erik
Martin, siehe auch: „Briefe an den Muschelhaufen“)
Samaritanisch
Dies hörte ich sagen:
wer gegen den Baum rennt
und hat kein Beil
ihn zu fällen
der straucht immer wieder
gegen den Baum.
Wer seine Kiefer
zahnlos bewegt
bricht auch am härtesten Elend
keinen Zahn sich mehr aus
und wer fällt unter die Räuber
und sie lassen ihn liegen
weil er nichts anhat
der tut mir leid.
(Erstveröffentlichung in Muschelhaufen Nr. 18, 10. Jahrgang, 1972)
Metaphysisch
Die Welt steht auf dem Kopf
weil sie sich längst schon
die Beine abgelaufen hat
auf der Pirsch nach einem Schöpfer
der nicht ausläuft
bei der großen Wäsche
Doch wo ist der Schweißhund
der ihn verbellte?
Wo der verbissene Pazifist
der ihr die Prothese liehe
zum Schweigemarsch gegen sich selbst?
So denn in deiner Umwelt
kommt auch der Regen von unten –
stehen lassen kannst du
den betreffenden Schirm im Saal
wo gerade du wartest
und der Finderlohn wird frei
für den Erwerb
eines zeitlosen Wortrats
mit dessen Hilfe du dich
durchfragen kannst nach einer
vernünftigen Schöpfung
Du findest sie vielleicht
bei einer Wiedergeburt
gleich auf dem Friedhof.
(Erstveröffentlichung in Muschelhaufen Nr. 30, 1993)
Vergiß-sie-nicht
Weine nicht, weil du nicht weinen kannst
über die heiligen Wetterschläge der Welt:
Das öffentliche Ärgernis im Garten Eden,
die göttliche Sintflut,
Sodom und Gomorha,
der Untergang der Atlantis mit Mann und Maus,
der Untergang der Titanic mit Mann und Maus,
der Untergang von 2367 Sprachen
benebst deren Sprechern,
der Ausbruch des Krakatau,
der Lues,
des Burenkriegs,
der Maul- und Klauenseuche,
Zyklon und Orkan,
Taifun und Tornado,
das Kino-Unglück in Harburg,
Bleidächer, Gummizellen, Gaskammern,
eine erwürgte Braut,
eine lebendgebärende Päpstin,
schlagende Wetter,
ein gottloser Gott –
und du weinst immer noch nicht?
Sei dann eindächtig der Zwiebel,
alium cepa:
sie löst dir das Rätsel der Tränen
und die Träne dazu.
(Erstveröffentlichung in Muschelhaufen Nr. 18, 10. Jahrgang, 1972)
Spiegelschrift
Das ungeschriebene Buch
ist die einzige Lektüre
des Analphabeten
Wo er es aufschlägt
erkennt er sich selbst
in archetypischer Nacktheit
und vom Scheitel zur Sohle
ist jedes Wort
an ihm wahr.
(Aus Muschelhaufen Nr. 18, 10. Jahrgang, 1972)
Irrsinns-Strophe
Wohin mit der Wiese
auf der das Kriechtier
die Lende gelähmt hat
im Geilblick zum Uhu
der seinen Dreifuß verloren.
Niemand will sie
vor seinem Hause
noch hinter dem Hirn
der zerfurchten Verzweiflung –
Doch kurzes Holz ist
immer noch des Bauern Stolz.
(Aus Muschelhaufen Nr. 18, 10. Jahrgang, 1972)
Biogenetisch
in angelegtes Ei
erbrütet die Menschheit
im Eimer der Zeit.
Am Schlupftage hocken
die trockenen Ammen
wie Raben am Aas
der verworfenen Frucht.
Ist auch dein Stein in der Brust
nicht mehr zu erweichen
verhärme dich nicht
es bleibt noch Hoffnung:
Tausche ihn aus
gegen gläserne Augen
zum sichtlichen Zeichen
deiner stichtigen Blindheit
oder
die beste Gewähr
für den ewigen Frieden
mönche dich selbst.
(Aus Muschelhaufen Nr. 18, 10. Jahrgang, 1972)
*
Kein „Eieruhr-Gedicht“:
Zur
Jahreswende verschickte Albert Vigoleis Thelen seinen Freunden Grüße in
Gedichtform. Die frühen wurden mit der Schreibmaschine getippt, die späteren
gedruckt, oftmals in bibliophiler Aufmachung. Den folgenden Text versandte
Thelen 1965 mit einem „Prosit Neujahr“. Er wurde in der Muschelhaufen-Ausgabe
38-1999 veröffentlicht.
Sic transit gloria Dei
Zum Jahreswechsel
Das Jahr schneuzt
ab, es läßt sich nicht mehr halten,
Die Tage seines
Wandels sind gezählt –
Wie auch die
deinen, nur kannst du nicht schalten
Mit dem, was dir am
Saldo-Vortrag fehlt.
– und in
verwitterter Hütte
Ein verwunschenes
Kind
Näßt schon die
Schütte
Wie Esel und Rind.
Hirten, die
beisammen im Felde sind,
Kommen und beten es
an:
Weiß Gott,
vielleicht ist's der kommende Mann –
Weise aus
Morgenland bringen Geschenke:
Wollen wir wetten,
an dem Kind
ist was dran!
Man munkelt sogar,
es erlöse die Welt –
Das freilich hat
sich als Märchen herausgestellt,
Den Kalender
indessen, den gibt die Geburt des Knaben an,
Und du, Menschling
Mensch, ziehst daran,
Ein Blatt jeden Tag
–
Um ein Etmal, anno
domini, minder
Wirst du bei diesem
christtümelnden Spiel,
Dieweil das Kind
aller Kinder
Im Lauf gegen die
Zeit das Rennen macht,
Nein, nicht auf
eigenem Gaul noch auf eigene Faust:
Wovor mir
graust,
Das sind seiner
seligen Armut Vertreter,
Die Gold-Popanzen
und Macht-Anbeter,
Welche, auf
güldenen Thronen,
In Gott längst
entfremdeten Häusern wohnen:
Und statt der
schimpflichen, stechenden Dornenkronen
Wiegen sie
eitel
Auf ihrem
gesalbten Skalp
Ein paar
Millionen
In Form der
dreifach gestuften Tiare, Regnum genannt –
Doch auch das
ist bekannt.
Und darunter,
im heilig-sprechenden Munde
– davon ist
historisch verbürgte Kunde –
Das
Fleisch-Gewordene-Wort,
Jahraus,
jahrein,
Selbst in
dieses, in unser neues Jahr hinein –
Ach, es zeugt
sich als Lüge fort,
Wie der Gallmück,
der Kuckuck, der Aar,
Ein Jeglich
auf seine Gebar
und nach
seiner Manier:
Mit segnender
Hand, mit Fusel, mit Bier,
Dieweil ich
selber, im Bündnis mit der seligen Witwe Clicquot
Mich versteife,
in unziemlicher Klarheit,
Auf mein
vertracktes Bonmot:
Im Zweifelsfalle
entscheide die Wahrheit –
Prosit Neujahr
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