Briefe an den Muschelhaufen

Albert Vigoleis Thelen, BLONAY s/VEVEY, Campagne La Colline

3.1.1972

 

An den Muschelhaufen zu Viersen in der Stadt

Sehr geehrter Herr Martin,
nein, – nichts wandert in meinen Papierkorb, ich antworte – auf Kosten meiner Arbeit, ein Augenleiden behindert mich – auf alle Zuschriften, und das sind nicht wenige, ob auch mein Name in Vergessenheit zu geraten droht, weil ich so wenig veröffentliche.
Tatsächlich stutze ich beim Lesen des Namens Viersen; es ist ja die Stadt, an deren höchster Bildungs-Stätte ich scheiterte, deren Abit.h.c. ich nun bin, und es ist auch Viersen, das meine Vaterstadt, die mich verstoßen, eingemeindet*) hat, zu Zwecken, die niemandem bekannt sind; man weiß einzig um die „Fusion“ und die Entohnigung alter Städtenamen.

Wenn Sie sich ein wenig in meinen Büchern auskennen, werden Sie wissen, daß ich kein Mann der kurzen Prosatexte bin, zum Leidwesen meiner Verleger, die immer wieder versuchen, mich zusammenzustreichen; so wollte man mein Abit.h.c. – Dr.hum.c. – und auch sonst wie beglänztes Insel-Memorial auf die Hälfte einkürzen, und, Schande immer noch über den Eugen Diederichs Verlag, das ganze „von a bis z sprachlich und grammatikalisch vom Lektorat überarbeiten“ lassen! Übersetzungen meiner Bücher scheitern, desgleichen, daran, daß ich mich weigere, kastriert zu werden, sei es denn, man zahle für jede zu streichende Seite 100 Mark, die ich dazu verwenden würde, die vertestikulierten Stellen nachzudrucken und dem Leser über das Sortiment als Geschenk des Autors anzubieten: daraufhin erklärten berühmte Verlage (England, USA, Frankreich, Schweden etc.), ich sei wohl verrückt, – und dabei bleibts.

Ich kann Ihnen also bis zum 1.4. des angelaufenen Jahres keinen solchen Mini-Text auf Ihren Muschelhaufen legen, oder hinblasen.
Indessen könnte ich Ihnen aus der Mappe meiner „Eieruhrgedichte“ das eine oder andere zum Abdruck geben. Es sind dies parodistische Travestien, oder travestierte Parodien auf die höchstmoderne Lyrik, und diese meinige lebt obendrein noch aus sich selbst und in sich selbst. Ob das aber zu dem sich fügt, was Sie den Muschelhaufen nennen, weiß ich beigott nicht. Denn was ist unter Muschel in Bezug auf den Haufen gemeint? Das Weichtier, die Schale, die vulva des Weibes, das Kerngehäuse einer Frucht (Ketsch), das Stichblatt des hirschgerechten Seitengewehrs, eine Wagenmulde? Es gibt der Bedeutungen noch mehr, und je nach dem Sinn, kann der Haufe ins Riesige sich auswachsen. Sie geben dem Leser Ihrer Jahres-Schrift freie Bahn, sich das seinige zu denken, – und das ist schon sehr viel.

Wollen Sie schweres Geschütz auffahren, im Geiste der Edda, könnten Sie Verse abdrucken, die vor einigen Jahren als Privat-Druck (150 Expl.) in kostbarer Aufmachung erschienen sind; von einem Mäcenas herausgegeben, nicht im Handel. Im Dunk unserer Sprache verschollener Wortrat wird dort gemutet und im Reim zu Glanz gebracht. „Runenmund“, heißt das Buch, Sie könnten es bei einem meiner Brüder – 2 Stück, die sich in entsüchtelten*) Stadtteilen aufhalten – einsehen, wohinwieder ich selbst soeben sehe, mit einer besonderen Lupe, die Zeichnungen einer Miesmuschelart den Imprint**) zieren, – aber die alte Frage dennoch: wo fängt der Haufe an?

Übrigens habe ich, trotz meiner Sehstörungen, und ehe ich noch die Legende entziffert, sofort erkannt, daß es sich bei dem Schwein auf S. 41**) um das kelt-iberische Algarve-Schwein handelt, das dem Käufer aus den Armen glitscht, worauf dieser erst die Schnur und dann den Regenschirm ergreift.

Leben Sie wohl und handeln Sie nach Ihren Wünschen und Ihrem Muschelhaufen-Gewissen. Der Ihrige, mit freundlichen Grüßen
Thelen +

(Der Brief ist viele Irrwege gegangen, bis er endlich, hier zu Hügel, landete! Th.+)

*) Thelen stammt aus Süchteln. Am 1.1.1970 wurden die Städte Süchteln und Dülken von Viersen eingemeindet.

**) Thelen hatte die Muschelhaufen-Ausgabe Nr. 17 vorliegen. Auf Seite 41 befindet sich ein Foto des Herausgebers, das einen Schweinekäufer auf dem Markt von Monchique (Portugal) zeigt.



 

4.2.1972


An den Muschelhaufen zu Viersen in der Stadt

Lieber Herr Martin,
es gibt ja viele Arten, Muscheln sich einzuverleiben oder einzuverseelen. Die leibliche Art des Verzehrs ist mir aus meiner niederrheinischen Jugend noch in der schönsten Erinnerung; man kaufte einen Haufen Muscheln und trug sie im Eimer nach Hause; dann mußte man sie unter der Wasserleitung waschen, es war ein „fieses“ Geschäft, Sand knirschte, Schleimiges quoll hervor; hartnäckige Muscheln, denen wir das Küchenmesser zwischen die Schalen zwängten, schlossen sich noch verbissener zu, bis es um ihren Eigensinn geschehen war, – meine Mutter schüttelte den Haufen in kochendes Wasser, dem sie eine Zwiebel und einen silbernen Löffel hinzugefügt hatte: das sollte gegen Vergiftungen feien: der Löffel werde schwarz, wenn eine Giftmuschel sich unter den Haufen gemischt hätte. Nie ist in unserem Hause in all den Jahren jemand an Muschelgift gestorben. Nachher kam das Schlecken, doch durften wir Kinder uns dabei nicht allzu lüstern benehmen, weil die Muscheln nur an Freitagen gegessen werden; und man mußte des Todes unseres Herrn und Heilands gedenken, – so fromm war meine Mutter, und nachher war sie für den Führer. Da sind mir die geistigen Muschelhaufen lieber, obwohl auch da viel Gift drin stecken kann, doch mit einer Zwiebel kommen wir nicht weit, und statt des silbernen Löffels nimmt man am besten sein Herz in beide Hände.
So hat jeder seine eigene Art, mit Muschelwerten umzugehen. Sie können meine Eieruhrgedichte*) nach Belieben verwerten. Meine Mutter pflegte oft die Muscheln vor dem Kochtopftode noch mit lauwarmer Milch zu reizen, dann öffneten sie sich ein wenig und dachten, es käme was besonderes. Reizen Sie meine Gedichte auf Ihre Muschelhaufenweise, und seien Sie gegrüßt von dem Muschelhaufengastdichter
Vigoleis +

*) Es lagen 6 Gedichte bei, die alle im Muschelhaufen veröffentlicht wurden. Einige waren Erstveröffentlichungen. Sie finden diese Eieruhrgedichte in der entsprechenden Rubrik dieser Thelen-Website.

 

 

 

 

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