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Wolfgang
Ries
Gebrauchsware
und Unnützes
Einige subjektive Anmerkungen zu
Person und Werk von Fritz Graßhoff
AM 9.DEZEMBER 2003 wäre
er 90 Jahre alt geworden. Am 9. Februar 1997 ist er gestorben, der „Texter
Fritz Graßhoff“, wie die FAZ damals titelte.
Texter? Laut Wahrigs Deutschem Wörterbuch „Verfasser
von Werbe- oder Schlagertexten“. Also: Konfektionsware, unterste literarische
Schublade. Es war und ist ja auch so schwierig, diesen Mann und sein Werk
einzuordnen. In keine Schublade passt diese Doppelbegabung. Ein Zeichner,
Grafiker, Buchillustrator, ein Maler, der Schlagertexte (!) liefert für Hans
Albers und Freddy Quinn, Bänkellieder und Chansons schreibt, zeitkritische
Verse, Protestsongs, Seeräuberballaden und ein parodistisches Triptychon
—„rhinitische Trompetenstöße in das literarische Taschentuch“ — mit Goethe,
Napoleon und Beethoven als verschnupften Helden. Diese drei Gesamtkunstwerke
— mit z.T. ganzseitigen Zeichnungen des Parodisten — sind Werbetexte (!) der
Pharma-Firma Thomae für ein Nasenspray. Derselbe Mann veröffentlicht mit 67
Jahren seinen ersten Roman, übersetzt uralte Griechen und Römer und einen
alten Schweden und schreibt, fünf Jahrzehnte lang, immer wieder lyrische
Gedichte.
Kein Zweifel, dass Graßhoff in keine Schublade
passt. So viele Themen, so viele Formen. Ein Gemischtwarenladen,
unüberschaubar? Hier seine eigene Einschätzung: „Ich produzier(t)e
Gebrauchsware und Unnützes. Zum Unnützen gehören die Künste. Ihnen gehört
meine ganze Liebe. Handel, Kriege, Jägerei, das ganze Gehampel um Macht,
Profit und Geltung zähle ich zum Lebensunfug.“ Diese Sätze, Credo und
Vermächtnis zugleich, stammen aus Graßhoffs letzten Tagen. Seine Witwe fand
sie in der Schreibtischschublade. Überschrift: „Gr. zu seiner Produktion“.
Der „Lebensunfug“ bot ihm Material und Motive für
seine zeitkritischen Bilder und Gedichte. Aus dem „Unnützen“ — bemerkenswert,
wie er, seine „ganze Liebe“ beiseite lassend, die Negativ-Perspektive der
Gegenseite einzunehmen vermag —bezieht er Legitimation und Motivation für die
Lebensform, für die er sich entschieden hat. Graßhoff ist — auch dort, wo er
Gebrauchsware liefert — ein freier Künstler. Und dies mit allen persönlichen
und materiellen Risiken.
Deshalb sehe ich hier den Poeten und Maler F. G.
ganz bewusst verkürzend als einen — Pardon! — Halunken. Der Begriff zieht
sich als Leitmotiv durch sein ganzes Werk. Zwei seiner wichtigsten Bücher
nennt er „Die große Halunkenpostille“ und „Die klassische Halunkenpostille“
(1962ff bzw. 1964ff). Doch dem Wort haftet nichts Negatives an. Klassische
Halunken — das sind seine Freunde, die kritischen Poeten der Antike, die den
Alltag der kleinen Leute beschreiben, ihre kleinen privaten Freuden und ihre
großen Sorgen mit Politikern und anderen Halsabschneidern. Aus derselben
Schicht stammt das Personal der „Großen Halunkenpostille“: Scherenschleifer,
Bäckergesellen, „Schnorrer, Penner, schräge Narren, / Kesselflicker, Diebe.“
Dem Autor war diese Welt seit der Kindheit in Ouedlinburg vertraut.
„Aufgewachsen zwischen Koksbergen“ — sein Vater, früher Kapitän, war
Kohlenhändler geworden —, „Bumskneipen, Schlägern und zweifelhaften Damen,
lernte er früh genug das Milieu seiner Balladen und Lieder kennen und spät
genug schätzen“ (Gr. über Gr.).
Vaganten, Halunken — Graßhoffs Kürzel und Sammelbegriff für die
Nicht-Sesshaften, die Nicht-Bürger, die Nicht-Angepassten und solche, die
nicht nützliche Mitglieder der Gesellschaft sind und vielleicht sogar noch
„Unnützes“ produzieren. Er selbst war einer von ihnen, sein Leben lang. Zu
Beginn, für sieben endlose Jahre, gegen seinen Willen: „Ich kam zu den
Soldaten, / und was ich erblickte, war mein. / Den Globus wollten wir braten,
/ doch war die Pfanne zu klein.“ Nach Russland-Krieg und Gefangenschaft lebte
er 1946 bis 1967 in Celle, aber immer wieder zieht es ihn hinaus:
Griechenland, die Türkei, viele Monate in Schweden. Einen Bäckergesellen
lässt er sagen: „In der Suppe fand ich ein Lorbeerblatt. / Nun denke ich an
eine Stadt / im Süden“. Kleine Ursachen, große Wirkungen. Heimisch wurde er
wohl nie, auch nicht auf der nächsten Etappe, im ersten eigenen Haus „im
Süden“ (von Celle), in Zwingenberg an der Bergstraße. Ironisch skizziert er,
nach einer Miniatur von Adrian Brouwer, den Traum vom Glück im Winkel. Der
Vagant („Ich sause schon zu lange durch die Welt / und hab’s zu nichts
gebracht bisher“) zur Winterszeit am warmen Ofen, „die Füße stecken tief in
Filzpantinen“. Wonnen der Gemütlichkeit. „Die Zeichenfeder kratzt auf dem
Papiere. / Die Pfeife qualmt. Ich sitze und sinniere / und mal mir was aus
meinen Stromerzeiten, / als mir die Läuse aus dem Ärmel schneiten.“
Man müsste „Das Zuckerstück“, eine große
Charakterstudie der deutschen Lyrik, ganz zitieren, bis hin zum Aufbruch aus
der Idylle in der fünften und letzten Strophe: „Nur fürchte ich, sobald im
lauen Wind / der Weg sich wieder auf sich selbst besinnt / und alle Wiesenpieper
flott krakeelen, / kommt mir die Lust, mich spanisch zu empfehlen.“ Der
schnoddrige Romantiker, der uns hier auch auf ein Selbstporträt schauen
lässt, hat sich nach 16 Zwingenberger Jahren spanisch empfohlen. Warum
wechselt ein Siebzigjähriger Haus, Land, Kontinent und zieht 1983 mit Frau
und Sohn nach Kanada?
Gründe kann man nur vermuten. Der Terror der
Tiefflieger? Die bedrohliche Nähe des Atomkraftwerks Biblis? Die satte
Selbstzufriedenheit im Wirtschaftswunderland oder die scheinbar ewige Teilung
Deutschlands? War es die komplette Wiederaufrüstung, die Drohung eines
dritten Weltkriegs? In Klammern: Diese Ängste sind beklemmend gestaltet in
der Grafik „Furia belli“ und der „Ballade vom schlafenden Mann in der Kirche
im Dorf“. Auch die Situation der Künste könnte eine Rolle gespielt haben:
Welche Chance hatte das „Unnütze“ gegen die Übermacht des Zweckhaften und
Nützlichen? Vielleicht bedrückte ihn auch die fehlende Anerkennung durch die
akademischen Literaturverwalter oder die Isolierung von den Kollegen in
Deutschland. Kollegen, Konkurrenten, die fixer, flexibler sind, wenn der
große Kuchen verteilt wird: bei den Rundfunksendern, Verlagen, Kulturämtern,
Ministerien. Überall, wo die laute Musik spielt, bleibt er fern. Keine Gruppe
47, keine Akademie, kein PEN-Club. Unterschriftenaktionen, Petitionen,
Demonstrationen — ohne ihn. Individualismus, derart schroff demonstriert, hat
einen hohen Preis, gerade im Land der Vereins- und Verbandsmeier.
Genug der Mutmaßungen. Fast 3700 Meilen und gute acht Flugstunden von der
alten Welt findet Graßhoff in der Nähe von Montréal sein neues Zuhause.
Kanada ist, auch sprachlich, Neuland für ihn. Jahrzehnte zuvor hatte er
geschrieben: „Doch habe ich mein Geld im Sack, / dann pfeif ich auf das
Lumpenpack / und fliege in die Fremde“. Die Verse stehen — wo denn sonst? —
im „Halunkenlied“; und mit den klassischen Halunken, seinen Brüdern in Apoll,
nimmt er sofort wieder Verbindung auf. Hatte nicht schon der Römer Juvenal
den Rückzug des Kollegen aus Deutschland vorgebildet? „Hier ist kein Platz
für ehrliches Gewerbe./ Salü! Ich lasse andern das Gelände. / Ich habe für
das Spielchen zwei verkehrte Hände“, lässt Graßhoff ihn sprechen.
Die Adresse 710 Main Rd., Hudson, Québec sollte die
letzte Bleibe des Vaganten sein. Er wusste es. Er wohne „direkt am Wasser, am
Schilf, dem Charon heilig“, schreibt er im Dezember 91.
Dem Charon heilig — dem Fährmann der Verstorbenen
über den Unterweltfluss Acheron. Für den Freund der alten Griechen und Römer,
den ausgezeichneten Kenner ihrer Sprache und Lebenswelt, kurz: für Fritz
Graßhoff, den Poeta doctus, ist dies alles andere als Bildungsprotzerei.
„Wäre neulich fast ins Abseits geraten“, heißt es drei Jahre später nach
einer schweren Krise, „ich hörte den Acheron schon rauschen.“
Fast 14 Jahre bleiben ihm am Ufer des Ottawa-River.
Sie sind ausgefüllt mit erstaunlicher Aktivität: Zeichnen und Malen, Lesen,
Schreiben. Bei den Universitäten findet er Resonanz und Kontakte, das
Goethe-Institut und eine Galerie stellen seine Bilder aus. Die stapeln sich
in der umfunktionierten Garage des Fußgängers Graßhoff, werden gelegentlich
hervorgeholt, privat gezeigt. Doch verkaufen? Nee! Empört schimpft er auf
„diese Gangster, die mit mir feilschen wollen. Von Kunst haben die doch
keinen blassen Schimmer!“ Also stapeln sich die Bilder in Fafners Garage —
s.o., usw...
Von den Gedichten trennt er sich leichter. Nicht
„den großen Haufen“ will er bedienen, sondern ein Gespräch möglich machen
zwischen seinen Poeten-Freunden und den Leser-Freunden. Also gibt er 1995 dem
Schweden Carl Michael Bellmann, 1996 dem Hispano-Römer Martial seine, unsere
Sprache. Wenige Wochen vor seinem Tod — er hat gerade eine Aorta-Operation
hinter sich — kündigt er mit bescheidenem Stolz den „Martial für
Zeitgenossen“ an: „Bevor man mir den faustgroßen Ballon herausschnitt, habe
ich (immerhin) noch ein neues Buch verfasst...“.
Graßhoffs Nachlass ist bis heute noch nicht erschlossen. Zum Glück sind,
während die Großen schlafen (und vermutlich auch seinen Neunzigsten
verpennen), die vermeintlich Kleinen aktiv. Kontakte zwischen Viersen und
Hudson fördern, auch in der Grafik, „Unnützes“ von hoher Qualität zu Tage.
„Graue Ballade“ etwa und „Gefüllter Fisch“ — welch weite Entfernung zwischen
Nachkriegsdeutschland und der Naturzerstörung der 90er Jahre in Kanada,
zwischen frühem und spätem Graßhoff. Und dieser Autor ein „Texter“? Amüsant,
sich seine Reaktion auszumalen. Vielleicht hat er, auf Wolke 7 oder anderswo,
die Faust geballt und etwas geknurrt, was nicht einmal der „Muschelhaufen“
zitieren könnte. Möglich aber auch, dass er nur den Kopf geschüttelt und
„Banausen!“ gebrummt hat (natürlich im griechischen Original, Akzent auf der
ersten Silbe).
Zu den 3 Graßhoff-Zeichnungen im Text: 1) „Marschbefehl“
(1985), 2) Selbstporträt (1980), 3) Selbstporträt (1963)
(Muschelhaufen 44-2004) © Wolfgang Ries
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