|
Einige kleine Buchbesprechungen aus dem Muschelhaufen Nr. 47/48
Ein wunderbarer
autobiographischer Roman
Im Muschelhaufen werden Sie keine
literaturwissenschaftlichen Besprechungen finden, sondern einige persönliche
Meinungen über Bücher. Etliche gefielen, über andere war man eher ratlos, und
manchmal konnte man nur von der Lektüre abraten. Ein Buch, das mich
begeisterte, möchte ich hier vorstellen. Sein Titel lautet: „Da geht ein
Mensch“. Es ist der autobiographische Roman des Schauspielers Alexander
Granach. Das Buch erschien 1945 gleichzeitig auf Deutsch in einem
schwedischen Exil-Verlag und in den USA unter dem Titel „There Goes An
Actor“. Leider konnte der Autor dies nicht mehr erleben, da er kurz zuvor
nach einer Blinddarm-Operation starb. Nach dem Krieg kam es in mehreren
Ausgaben auch in Deutschland heraus, aber seit 2003 erscheint im Ölbaum
Verlag eine vollständig überarbeitete Neuausgabe, die im Augenblick bereits
in der 5. Auflage vorliegt.
Da wird zunächst eine jüdische Kindheit in
einem ostgalizischen Dorf geschildert, wo die kinderreichen Familien in
großer Armut unter Polen und Ukrainern leben. Alexander Granach kann
faszinierend schreiben, er hielt in den USA vor dem Erscheinen seines Buches
Lesungen, zu denen u. a. Thomas Mann und Lion Feuchtwanger kamen, die das
Manuskript sehr schätzten. Diese uns heute so fremde ferne Welt des alten
Großösterreichs mit ihrem Glauben, ihren Erzählungen, einzigartigen Menschen
und tragischen Ereignissen geht einem sehr nahe. Manche Kapitel, z.B. gleich
das erste, sind zum Weinen schön. (Das darf man vielleicht so nicht
schreiben, das klingt nach „Kitsch“, aber ich lasse es stehen: Ich lese ein
Kapitel, sitze einige Zeit im Sessel und lasse das Geschehene noch einmal in
Gedanken passieren: Was kann Lesen doch für Freude bereiten!)
Der junge Granach löst sich aus dem Dorf,
arbeitet sich zäh vorwärts, von der nächstgrößeren Stadt bis nach Lemberg und
später nach Berlin, arbeitet als Bäckerjunge, als Vorleser und Briefschreiber
im Bordell und geht manchen harten Weg (u. a. lässt er sich seine krummen
„Bäckerbeine“ brechen und begradigen, um besser bühnenfähig zu sein), bis er
an der Schauspielschule am Deutschen Theater bei Max Reinhardt landet, von
diesem gefördert wird und sich zu einem bekannten und ausgezeichneten
Schauspieler entwickelt. 1933 sind jüdische Schauspieler allerdings nicht
mehr erwünscht, Gustav Gründgens übernimmt seine Rolle als „Mephisto“ am
Deutschen Schauspielhaus, zwei Monate später flieht Granach aus Deutschland.
Was Granach im Ersten Weltkrieg erlebt, ist
fern jeder Idylle, und wie es ihm dank seiner schauspielerischen Fähigkeiten
gelingt, aus der italienischen Gefangenschaft in die Schweiz zu fliehen, ist
trotz aller Gefährdungen eine Art Schelmenstück. Ich liebe dieses Buch und
gebe, zum Abschluss, Peter Härtling zustimmend, dessen Worte über diese
Autobiographie wieder: „Das Buch … ist weise und wild, traurig und steckt
voller verwandelndem Witz. Es ist klug und poetisch geschrieben.“ Und ist
meine persönliche Empfehlung. (Erik Martin)
Alexander Granach: Da geht ein Mensch. Autobiographischer Roman. Ölbaum
Verlag, Augsburg. 375 S., Abb., ISBN 3-927217-38-7; 24.- €
Bis
dann die Fundamentalisten auftauchen
Zugegeben, ich habe bei der Zeugung Alexanders auf Seite 11 hellauf gelacht,
zugegeben, ich war anschließend beim Lesen des klischeehaften Gesprächs
seiner Eltern kurz davor, das Buch nicht mehr weiter zu lesen, aber dann hat
mich dieses „Märchen“ trotz einiger Schwächen ganz gut unterhalten, die
Geschichte eines marokkanischen Ehepaars, das zusammen mit ihrer Tochter (die
sich dann mit besagtem Alexander verbandelt) in Bremen ein arabisches
Restaurant eröffnet, das die Menschen verzaubert dank der besonderen Speisen
und der Ausstrahlung der Ehefrau und Köchin Amina und der Erzählungen des
Hausherrn. Immer bekannter wird dieses wundersame Restaurant, bis dann die
Fundamentalisten auftauchen, den Koran vermissen und die Erzählungen zu
erotisch finden. Ach, wie es weitergeht, lesen Sie dann bitte selbst.
(Marijke van Korkerken)
Michael Lüders: Aminas Restaurant. Ein modernes Märchen. Arche, Zürich u.
Hamburg 2006, 206 S., ISBN 3-7160-2351-5, 18.- €
„Ideal für
allein stehende Damen wie Sie“,
schlägt der junge Hausarzt der erschöpften Endvierzigerin in jovialem Tonfall
vor und meint damit eine Kur in Bad Pyrmont. Wie hatte er es wagen können,
sie in einen Topf zu werfen mit jenen, die sie verachtete, (…) jene fetten
ältlichen Matronen? Ihre Weiblichkeit ist noch lange nicht dahin! Und doch,
der Spiegel zeigt es ihr: eine Frau im so genannten Wechsel. Eindeutig.
Schlaffes Fleisch, Tränensäcke unter den Augen, hektische rote Flecken auf
den Wangen, reif für Fango und Tanztee und die klebrigen Avancen von Artheriosklerotikern.
Wann hat dieser schleichende Verfall angefangen?, fragt sie sich. Im letzten
Jahr hatte sie noch alle Blicke auf sich gezogen.
Während ihrer Wellness-Weeks – mit dieser
Umdeutung überredet sie sich nun doch zur Kur – gerät sie in eine tiefe
Lebenskrise: Sie hatte immer nur ein bisschen, aber nie wirklich gelebt,
nicht einmal gewusst, was das eigentlich war: leben. Für sie eine verpasste
Gelegenheit – durch übermäßige Anpassung, um es anderen recht zu machen.
Ein Mann wirft ihr interessierte Blicke zu,
woraufhin sie ihre Ansprüche gleich herabschraubt. Immerhin ist er nicht
gänzlich unannehmbar. Man trifft sich im Café. Leider will Hubert – trotz
ihrer durchsichtigen schwarzen Chiffonbluse und Tropenduft – nur ausgiebig
von seinem Burn-Out-Syndrom sprechen. „In Wirklichkeit hat er mir ja nicht
einmal gefallen“, sagt sie dazu, was das Gefühl der Demütigung noch
verstärkt.
Am Ausgang des Cafés befiehlt ihr eine
schaurig geschminkte, uralte Dame, sie davonzuschieben, als sei sie ihr
Dienstmädchen. Mechanisch ergreift sie den Rollstuhl, in dem ein winziges
Wesen mit einem dunkeltürkisfarbenen Turban thront als Königin von Saba. Frau
von Bodifée, die im Hotel Fürstenhof residiert, interessiert sich nicht
einmal für ihren Namen, erwartet jedoch, dass sie morgen früh bereitsteht.
In ihrer Fantasie probt sie den Widerstand
gegen diese Vereinnahmung. Bereits am nächsten Morgen knickt sie ein, holt
Frau von Bodifeé im Hotel ab; begleitet sie nun täglich ins Spielcasino, ins
Kino und kurz darauf zusammen mit Dr. Bärenstein, einem alten Verehrer der
alten Hexe und bald ihrer, zum Tanztee …
„Sie möchten aufgeschüttelt werden wie ein
altes Kopfkissen. Ihre Federn sind verklumpt, es geht weder vor noch zurück“,
sagt ihr Frau von Bodifée auf den Kopf zu. Irgend etwas haben Sie unterwegs
vergessen, oder es ist Ihnen abhanden gekommen, und Sie können sich einfach
nicht mehr daran erinnern, was es eigentlich war und wo es eigentlich
passiert ist und wann …“ Dann verpasst sie ihr einen neuen Namen, was unsere
bislang namenlose Heldin, die sich selbst abhanden gekommen ist, nun erst
richtig in die Krise stürzt, obwohl sie sich nach einem neuen, nach i h r e m
Leben sehnt und der Person, die sie hätte sein können.
Seit ich Stefanie Golischs Erzählungen im
Muschelhaufen entdeckt habe, gehören sie zu den literarischen Höhepunkten für
mich. Umso mehr freut es mich, dass sie nun auch diese herrlich lange,
tragisch-komische Erzählung in einem Verlag untergebracht hat. Ihre Erzählung
hat „Witz, Ironie und tiefere Bedeutung“, sie ist spannend und unterhaltsam.
Golischs Formulierungen treffen alle den Punkt, auch den wunden; sie sind oft
dermaßen komisch, dass mir schon die Pension Hyazinth, in der die Heldin
wohnt, unvergesslich bleiben wird.
Unbedingt lesen und weiterempfehlen! (Vera Hesse)
Stefanie Golisch: Pyrmont. Erzählung. Edition Thaleia, St. Ingbert 2006,
172 Seiten, ISBN 3-924944-79-2, 14 €
Schwer
erträglich
„Michael Stavariè schreibt zwei Krimis in einem und mehr als das“, verspricht
der Klappentext zu Stavariès Roman „stillborn“. Krimifreunde sollten das
nicht glauben. Ja, im Umfeld der erzählenden Immobilienmaklerin häufen sich
die Fälle von Brandstiftung, ja, in dem Ort, wo sie zur Schule ging, wurden
Kinder ermordet, und sie schläft mit dem ermittelnden Kriminalbeamten, aber
im Mittelpunkt des Romans stehen nur ihre krausen Gedanken, die sie teilweise
uns, teilweise einem Therapeuten erzählt. Und zwar, laut Klappentext, „in
unwiderstehlicher Manier ... voller Rhythmus, poetisch, pulsierend.“ Das hört
sich dann so an: „Am Abend, wir treffen uns spontan, er, sie, ich, atmen,
atmen gemeinsam, er atmet, wie ein Mensch eben atmet, ein, aus, ein, aus, ich
atme anders, es fühlt sich kalt an, kalt, tot, wir ermitteln wieder.“ (S. 78)
oder: „Wenn man tot ist, dann liegt es nahe, in einer Welt zu leben, die
Distanz schafft, auch Differenz, die überbrückt werden will. Manchmal, Herr
Doktor, da fühle ich mich müde, sehr müde, wie umgestülpt.“ (S.77)
Mich ermüdete der Roman.(Peter Nieting)
Michael Stavariè: stillborn. Roman. Residenz Verlag, Salzburg 2006, 171
S., ISBN 3-7017-1440-1, 19,90 €
Langweilig
„Die Fliege und die Ewigkeit“ soll der „neue große literarische
Kriminalroman“ (Eigenwerbung) sein, und ich wollte ihn als Hörbuch genießen.
Nur: Von Genuss konnte nicht die Rede sein, ich fand das Werk über weite
Strecken schlicht langweilig, für einen Kriminalroman ein katastrophales
Ergebnis. Und die vielen gewollten oder an den Haaren herbeigezogenen Bilder
sollen wohl das Literarische ausmachen? Groß? Nein, nur breitgewalzt. Wenn
das eine „gekürzte Lesung“ ist, wie muss dann erst das Buch sein? Armer
Dietmar Bär, der das alles lesen musste. (Peter Nieting)
Håkan Nesser, Die Fliege und die Ewigkeit. Gelesen von Dietmar Bär. Random
House Audio, München 2006, 476 Minuten, ISDN 3-86604-328-7; 29.95 €
Junge
Lyrik, usw.
Was wächst nach in der Lyrik im deutschen Sprachraum? Dieser Frage widmet
sich auf 119 Seiten die Junge Lyrik betitelte 171. Ausgabe der von Heinz
Ludwig Arnold herausgegebenen Literaturzeitschrift text+kritik. Nachdem
Norbert Hummelt zunächst Sechs neue Dichter vorstellt (Nora Bossong, Swen
Friedel, Nadja Küchenmeister, Norbert Lange, Lars Reyer, Nathalie Schmid),
setzen sich Guido Graf, Michael Braun (der gelegentlich in einen
apodiktisch-besserwisserischen Ton verfällt), Jan Wagner, Ulrike Draesner,
Thomas Lehmkuhl, Norbert Lange und Peter Geist (deren Bilanzen –
erfreulicher- und berechtigterweise sowie ganz gegen den typischen Trend, mit
dem sich zuletzt Michael Lentz in seinen 10 Thesen zur Poesie lächerlich
gemacht hat – durchweg positiv ausfallen) engagiert, idiosynkratisch, klug
mit den heute 25- bis 35jährigen Autorinnen und Autoren auseinander – und
zwar fast ausschließlich mit solchen, die seit einigen Jahren bereits einen
oder mehrere Einzeltitel vorgelegt haben, medial herumgereicht, mit Preisen
bedacht und anderweitig gefördert werden (Autoren, die „man“ eben schon
kennt). Bei „junger Lyrik“ denken Muschelhaufen-Leser in erster Linie an die
vor Jahren bereits von Erik Martin publizierten wundersamen Gedichte einer
Marjana Gaponenko (1981), die ich im text+kritik-Heft vergeblich suche. Daß
Jan Volker Röhnert (1976) zu den kraftvollsten und originellsten Lyrikstimmen
im Lande gehört, wird ebenfalls an keiner Stelle vermerkt. Und so suche ich
vergebens nach zahlreichen Namen, die mir im Zusammenhang mit „junger Lyrik“
spontan einfallen. Aber das Heft ist – natürlich! – stark genug (denn groß
ist die Schar der „jungen“ Lyriker, die der Poesie im deutschen Sprachraum
neuen Nährstoff gibt), Diskussionen in Gang zu setzen: Ist das „Neue“
wirklich neu? Vermitteln die jeweiligen Erkenntnisse eher Sichtweisen der
Interpreten als Verfahrensweisen der Lyriker? Ist die auch hier nicht zu
übersehende Berlin-Zentrierung der Verortung der Lyrik im deutschen
Sprachraum angemessen? Werden einengende, unscharfe Begriffe wie
„Naturgedicht“ oder „junge Lyrik“ einem komplexen Gebilde wie dem Gedicht
gerecht? Unter Insidern können wie immer die schmerzlich Vermißten aufgezählt
und die fehlenden Aspekte aufgearbeitet werden, »usw.«, wie es bei der in
ihren Versen weiterhin blutjung wirkenden Friederike Mayröcker unbeirrt
heißt. Am Ende bleibt der Eindruck einer erfrischenden und hochinteressanten,
viele Gedanken auslösenden Lektüre, die Lust auf noch mehr Lyrik macht. (Theo
Breuer)
Junge Lyrik, Text + Kritik Heft 171, Hrg. H. L. Arnold, Boorberg Verlag,
München 2006. 116 S., ISBN 3-88377-847-8; 16.- €
|