|
Moritz Schramm
Suche nach
Identität Zur grönländischen Gegenwartsliteratur
Wenn heutzutage von Grönland oder grönländischer Kultur die
Rede ist, denkt man gewöhnlich vor allem an Eskimos, Hundeschlitten oder
Robbenjagd. Die literarische Entwicklung im gegenwärtigen Grönland, das
heute ein im weitesten Sinne modernes Land darstellt, in dem die
Schneescooter die Hundeschlitten abgelöst haben, hat dagegen wenig Beachtung
gefunden. Im deutschen Sprachraum liegen entsprechend, soweit ich sehen
kann, fast nur grönländische Sagen oder Expeditionsberichte vor, die
versuchen, das traditionelle Leben der Eskimos und deren Mythen
wiederzugeben. Die hier im Muschelhaufen 45 ausgewählten Texte sind dagegen
von zeitgenössischen grönländischen Schriftstellern geschrieben und müssen
daher auf dem Hintergrund der kulturellen Entwicklungen und Spannungen in
Grönland gelesen werden.
Dabei gilt es zunächst zu beachten, dass grönländische Literatur eine
relativ neue Erscheinung darstellt. Bis zur Kolonisierung Grönlands durch
dänische und norwegische Missionare vor gut 250 Jahren existierte noch nicht
einmal eine grönländische Schriftsprache. Die Eskimos, die nach dem bis
heute nicht ganz geklärten Verschwinden der ersten norwegischen Siedler –
der Nordmänner – im 15. Jahrhundert die einzigen Bewohner der zu 90 Prozent
von ewigem Eis bedeckten Insel waren, hatten vielmehr ausschließlich eine
mündliche Erzähltradition, durch die Geschichten und Sagen über Generationen
hinweg weitergegeben wurden. Diese mündlichen Erzählungen stellten dabei
einen Sammlungspunkt im Leben der Eskimos dar, die vor allem von Robbenjagd
und Fischfang lebten. Inhaltlich nehmen diese Erzählungen, die in der Mitte
des 19. Jahrhunderts von unter anderem Peder Kragh in Nordgrönland (zwischen
1823 – 28), von H.J. Rink an der Westküste (1858 – 68) und von Knud
Rasmussen im zentralen Westgrönland (1900 – 20) eingesammelt und
niedergeschrieben wurden, entsprechend vor allem in dem rauen Alltagsleben
der Eskimos ihren Ausgangspunkt, erweitern dies aber teilweise auch mit
traditionellen Schöpfungsmythen.
Die Voraussetzung für eine grönländische
Schriftsprache wurde erst durch Poul Egede (1708 – 1789), dem Sohn von Hans
Egede (1686 – 1758), dem ersten christlichen Missionar auf Grönland,
geschaffen. Dieser entwickelte in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine
Mischsprache, die grönländische Ausdrücke mit dem Dänischen verband, um auf
diese Weise den Grönländern die Möglichkeit zu geben, die Bibel und andere
religiöse Schriften zu lesen. Entsprechend sind die ersten Schriftzeugnisse
aus dieser Zeit vor allem Psalmen und religiöse Schriften. Ab der Mitte des
19. Jahrhunderts wurden diese dann in einer rein grönländischen
Schriftsprache abgefasst, die unter anderem von Samuel Kleinschmidt, einem
der deutschen Missionare auf Grönland, entwickelt wurde und die noch immer
Bestand hat. Bis heute verbreitet sind dabei bestimmte Lieder wie
beispielsweise der Psalm Guuterput qutsinnermiu (Unser Herr im
Himmel), der von Rasmus Berthelsen (1827 – 1901) geschrieben wurde
und 1858 erstmals in einer gedruckten Fassung erschien. Seit der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es auch die erste grönländische Zeitung,
Atuagalliutit, die bis heute unter dem Kürzel A/G erscheint.
Der erste Roman, der von einem Grönländer verfasst
wurde, kam dagegen erst 1914 heraus. Er wurde geschrieben von dem
grönländischen Priester Mathias Storch (1883 – 1957) und war, wie
schon der Titel Sinnattugaq (Der Traum eines Grönländers) andeutet,
vor allem eine Form von politischer Diskussionsliteratur, die sich auf die
Zukunft Grönlands bezog. Verschiedene Novellen und ein weiterer politischer
Roman – von Augo Lynge (1899 – 1959)·– folgten wenig später. Der
eigentliche Beginn der grönländischen Literatur setzt jedoch erst mit der
nächsten Generation ein. Die Autoren Frederik Nielsen (1905 – 1991),
Pavia Petersen (1904 – 1943) und Hans Lynge (1906 – 1988), die
alle gemeinsam zur Schule gingen, fertigten in den 30er und 40er Jahren nach
dem Vorbild der nationalromantischen Literatur Dänemarks, mit der sie in der
Schule konfrontiert wurden, eine Reihe von Romanen, Theaterstücken und
Erzählungen an. 1943 gab Frederik Nielsen zudem die erste Sammlung von
grönländischen Gedichten heraus, die nicht dazu bestimmt waren, gesungen zu
werden. In den 50er und 60er Jahren wird diese nationalromantische Literatur
dann von Autoren wie Otto Rosing (1896 – 1965), Villads Villadesen
(*1916) und Otto Sandgren (1914 – 1999) abgelöst, deren Werke eine
erste Reaktion auf die sich jetzt verändernden politischen und
gesellschaftlichen Verhältnisse darstellten. So wurde Grönland, das zuvor
den Status einer Kolonie hatte, 1953 ein gleich berechtigter Teil des
Königreiches Dänemark.
Mit diesem neuen politischen Status ging eine
umfassende Modernisierung und Industrialisierung einher, in deren Folge die
dänische Regierung die meisten traditionellen Fischerdörfer an der Küste –
die so genannten bygder – auflöste und die Einwohner dieser
Ortschaften mit ihren traditionellen Lebensformen in zentrale Städte
umsiedelte, in denen die medizinische und soziale Versorgung gewährleistet
werden sollte. Die Schriftsteller dieser Generation reagierten auf diese
gesellschaftlichen Umbrüche, die ihre traditionellen Lebensformen fast
vollkommen zerstörten, zunächst mit einer nostalgischen Rückbesinnung auf
diese traditionellen Bräuche und Sitten. Die dänische Professorin Kirsten
Thisted, die sich seit Jahren mit der grönländische Literatur und Kultur
beschäftigt, bemerkt etwas ironisch, dass die genauesten literarischen
Beschreibungen des traditionellen konebåds – des Begleitkajaks für
die Ehefrauen der Eskimos – gerade zu einer Zeit vorgenommen werden, in der
dieses traditionelle Boot in der Gesellschaft praktisch jegliche Funktion
verliert.
Erst in den 70er Jahren wird diese rückwärtsgewandte
Nostalgie in der Literatur dann durch eine sozialkritische Haltung abgelöst,
die zugleich offen gegen die dänische Dominanz auf Grönland opponiert.
Autoren wie Moses Olsen (*1938), Jens Geisler (*1951),
Aqqualuk Lynge (*1947), Kristian Olsen aaju (*1942) und Hans
Anthon Lynge (*1945) sind dabei auch durch die Studentenunruhen in
Europa – einige der Autoren dieser Generation hatten in den 60er Jahren in
Dänemark studiert – und den französischen Existentialismus beeinflusst. Vor
allem verbindet sich in dieser Generation eine allgemeine gesellschafts- und
zivilisationskritische Perspektive mit einem politischen Aufbegehren gegen
die Kolonialisierung und die umfassenden Modernitätserfahrungen, die von
diesen Autoren als Ursache für eine Entfremdung von einer ursprünglichen
grönländischen Identität angesehen werden.
In der Folge verbindet sich eine politische
Revolutionsromantik, die gegen die dänische Präsenz auf Grönland gerichtet
ist, mit einer neuen Renaissance von traditionellen Symbolen und Sitten, die
als Beleg für eine vergangene grönländische Identität angesehen werden: Der
traditionelle ostgrönländische Trommeltanz, bei dem die Zuhörer durch
rhythmisches Trommeln in eine Art Trance versetzt werden sollen, wird ebenso
wieder populär, wie die Harpune oder das ulu – ein aus Walzahn
geschnitztes Symbol für die grönländische Frau – weite Verbreitung als
Zeichen einer ursprünglichen kulturellen Tradition finden. Auch das
traditionelle Stammestreffen, das aasivik, das früher vor allem zum
Tausch und als Heiratsbörse gedient hatte, wird wieder aktiviert und mit
grönländischer Rockmusik, unter anderem der bis heute sehr populären Gruppe
Sume, unterlegt. In der Literatur stehen entsprechend soziale und
politische Missstände auf der Tagesordnung, die immer wieder mit einer
Gegenüberstellung einer echten grönländischen Identität – das grönländische
Wort für „Identität“ wird in dieser Zeit überhaupt erst erfunden – gegen die
dänische Fremdherrschaft operiert.
Zugleich beginnen in dieser Phase die ersten Frauen,
sich literarisch zu betätigen. Im Mittelpunkt steht dabei Mâliâraq Vebæk
(*1917), die 1981 den ersten Roman einer grönländischen Frau herausgab (Bussimi
naapineq, Die Geschichte von Kathrin). 1988 veröffentlicht zudem
Mariane Petersen (*1937) die erste grönländische Gedichtsammlung einer
Frau, später erscheinen auch Gedichtsammlungen von beispielsweise Jessie
Kleemann (*1959) und Vivi Lynge Petrussen. Einzelne dieser
Gedichte sind hier [in der Muschelhaufen-Ausgabe 45-2005] erstmals auf
Deutsch veröffentlicht.
Die starke Polarisierung zwischen einer „echten“
grönländischen Identität und dänischer „Fremdherrschaft“ schwächt sich im
Laufe der 80er Jahre jedoch zunehmend ab. Der Hintergrund ist dabei wohl vor
allem in der veränderten politischen Situation zu suchen. Waren die 70er
Jahre noch primär von einem politischen Kampf um die Unabhängigkeit von
Dänemark bestimmt, so wurde dieser Konflikt weniger bedeutungsvoll, nachdem
Grönland im Jahre 1979 eine teilweise Selbstverwaltung – die so genannte
Hjemmestyrelsen – zugesprochen bekam, die Grönland einen autonomen
Sonderstatus innerhalb des dänischen Königreichs zusicherte. In der Folge
davon stellte sich eine gewisse Beruhigung des kulturellen Klimas in den
80er Jahren ein. Auch werden inzwischen die Hintergründe der sozialen
Probleme Grönlands nicht mehr ausschließlich in der dänischen Präsenz
gesehen.
Nachdem man inzwischen über 20 Jahre eine autonome
Selbstverwaltung ausgeübt hat, beginnt sich zunehmend auch eine Selbstkritik
in der grönländischen Gesellschaft durchzusetzen, die teilweise auch in der
grönländischen Literatur zum Ausdruck kommt. Vor allem wird gerade in der
Literatur der letzten Jahre zunehmend die Frage nach einer grönländischen
Identität auf neue Weise gestellt. Ganz im Sinne der so genannten
postkolonialen Literatur, die international zunehmend Verbreitung gefunden
hat, stellt beispielsweise Ole Korneliussen (*1947) in seinem Roman
Tarrarsuummi tarraq (Der Schatten im Spiegel, ins Dänische übersetzt
als: Die Salzsäule) von 1999 die Frage, ob es eine ursprüngliche nationale
Identität, die als echte grönländische Identität bezeichnet werden soll,
überhaupt gibt oder ob diese nicht vielmehr selbst als eine Konstruktion
angesehen werden muss, welche die Pluralität und Vielfältigkeit des modernen
Menschen nicht mehr angemessen widerspiegelt. Korneliussens Blick ist dabei
doppelt: Seit 1967 in Kopenhagen lebend – und sowohl Grönländisch als auch
Dänisch schreibend – betrachtet er Grönland zum einen von Außen, wie ein
Fremder, der auf Grönland nur zu Besuch ist, und zugleich von Innen als ein
Teil der grönländischen Kultur, in der er aufgewachsen ist. Gleichzeitig
stellt er gerade die Abhängigkeit des Menschen von einem bestimmten
Kulturhintergrund radikal in Frage. Der Protagonist seines Romans drückt
dies symbolisch durch das Zerstören seines Stammbaumes mit einer Motorsäge
aus:
„Hat der Mensch,
wenn man die Vorfahren und Nachkommen mit bedenkt, nur eine Identität? Hat
ein Mensch ohne Vergangenheit und Zukunft keine Identität? Hat ein Mensch,
der seine Vorfahren verlassen hat, keine Identität? Doch, und immer wieder:
doch! Erst jetzt kann er die persönliche Identität wirklich entfalten, erst
jetzt ist er ganz er selbst und nicht mehr von seinen Vorfahren abhängig.
Schon vor langer Zeit fällte ich meinen Stammbaum mit einer Motorsäge und
sprengte dessen Wurzeln mit Dynamit.“
Diese Absage an eine kulturell bestimmte Identität
verdeutlicht dabei zugleich eine Entwicklung in Korneliussens Werk, die von
der berühmten sozialkritischen Erzählung „Wenn Schnee fällt, während die
Sonne scheint“, mit der Korneliussen einem größeren Publikum bekannt wurde
und die hier [im Muschelhaufen] in einer Übersetzung von Ina Kronenberger
abgedruckt ist, zu dem späteren Versuch der Auflösung einer jeglichen festen
und vorbestimmten Identität führt.
Eine ähnliche, wenn auch etwas andere Entwicklung
liegt in Hans Anthon Lynges Werk vor, das sich im heutigen Grönland
höchster Beliebtheit erfreut. Als Teil der direkt sozialkritischen
Generation der 70er Jahre, die vor allem gegen den dänischen Einfluss
opponierte, steht bei ihm zunächst eine realistische Darstellung von
sozialen Problemen im Mittelpunkt, z.B. in dem Roman: Seqajuk
(in etwa: Der Tölpel) von 1976 oder Umiarsuup tikinngilaattaaani
(Bevor die Schiffe kommen) von 1982. In dem neuesten Roman
Allaqqitat (Bekenntnisse) von 1997 inszeniert er jedoch anhand von
fiktiven Briefen aus der Zeit vor der Einführung der Selbstverwaltung, die
einem alten Freund, der im Roman fortan einfach als „Leser“ bezeichnet wird,
zugänglich werden, die Frage nach dem eigentlichen Wesen der grönländischen
Identität als eine offene Diskussion, die sich nicht einfach auf die alten
Traditionen berufen kann. In dem zentralen Kapitel des Buches „Direkt um die
Ecke...“, verweist er unter anderem auf die Vielzahl von ursprünglichen
Grönländern, die kein Grönländisch sprechen, weil sie als Kinder nur auf der
vermeintlich wichtigeren Sprache Dänisch erzogen wurden, während es
gleichzeitig Dänen gäbe, die auf Grönland geboren wurden und perfekt
Grönländisch sprächen, und Grönländer, die kein Dänisch, sondern nur
Grönländisch und Dänen, die kein Grönländisch sondern nur Dänisch sprechen
könnten. Da alle diese Menschen auf Grönland geboren seien, stellt sich für
den fiktiven Briefschreiber in dem Roman die Frage, ob es eine echte
grönländische Kultur heute überhaupt noch gibt oder ob es nicht vielmehr
darum geht, alle die Menschen als Grönländer zu akzeptieren, die in dem Land
leben und aktiv an dem Aufbau der Gesellschaft mitarbeiten würden – ohne
dass dies, wie in den 70er Jahren, von ethnischen Präferenzen geprägt wäre.
Diese Diskussion verdeutlicht dabei zugleich, wie
heterogen das Leben in Grönland inzwischen geworden ist und wie sehr sich
keine eindeutigen Zuschreibungen mehr aufrechterhalten lassen. Kristen
Thisted meint entsprechend, die grönländische Gesellschaft sei heute so
komplex und vielschichtig geworden, dass sich auch in der Literatur keine
einheitliche Tendenzen mehr ausmachen lassen. Jüngere Autoren wie Kelly
Berthelsen (*1967), dessen in dieser Muschelhaufen-Ausgabe abgedruckter
Text „Die Treppen“ als eine Allegorie auf das grönländische Streben nach
Selbstverwaltung zu lesen ist, oder Jessie Kleemann sind entsprechend
Beispiele für eine neue Generation von Autoren, die nicht mehr aus dem
selben Hintergrund kommen, wie ihre älteren Kollegen.
Gleichzeitig stellt sich jedoch auch für diese
Autoren, wie für ganz Grönland immer noch die Frage nach dem politischen
Status des Landes, das erst nach der Einführung der autonomen
Selbstverwaltung und einem darauf folgenden Volksentscheid aus der
Europäischen Union ausgetreten ist. Heute lassen sich entsprechend Stimmen
vernehmen, die über die Selbstverwaltung hinaus eine komplette
Unabhängigkeit von Dänemark und den Aufbau eines eigenen Nationalstaates
anstreben. Die finanziellen Probleme, mit denen ein solcher eigenständiger
grönländischer Staat allerdings konfrontiert wäre, sind wohl heute kaum zu
überwinden. Man kann daher davon ausgehen, dass Grönland für die nächsten
Jahre in einer staatlichen Anbindung an Dänemark bestehen bleiben wird und
die ebenfalls sehr ausgeprägte Zusammenarbeit mit den kulturell eng
verwandten Eskimos beispielsweise in Alaska und Sibirien, die über den so
genannten Arctic Council organisiert ist, nebenbei bestehen wird.
In der Literatur ist in einem Land, das über kein
ausgeprägtes literarisches System mit Literaturkritik, Rezensionen und
literarischen Diskussionen verfügt und das insgesamt kaum mehr als 50.000
Einwohner zählt, ein richtiger internationaler Durchbruch auch in der
näheren Zukunft wohl kaum zu erwarten. Die hier im Muschelhaufen
ausgewählten Texte, die eine der ersten Übersetzungen von grönländischen
Autoren ins Deutsche darstellen, zeigen aber, dass auch in einer kleinen
Literatur interessante Entwicklungen vorliegen, die nicht zuletzt für den
deutschen Leser einen ersten Eindruck eines Landes vermitteln können. Wohl
auch in Deutschland verbindet man mit dieser größten Insel der Welt, obwohl
politisch ein Teil des Nachbarlandes Dänemark, gewöhnlich nicht viel anderes
als Eis und Schnee. Die hier präsentierte Auswahl einiger grönländischer
Texte, denen freilich eine dänische Übersetzung zugrunde liegt, hofft, dies
Bild ein bisschen zu erweitern.
© Moritz Schramm
|