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Friedhelm Schmitz:
Kein Herz aus
Stein
Bemerkungen zu
einem besonderen Roman
In seinem neuen Roman Die
Gilde erzählt Kaspar Schnetzler von einer öffentlichen Anatomie in Amsterdam
am Tage von Rembrandts Beerdigung, also am 8. Oktober 1669. Die Gilde, das
sind die rund 70 Anatomen der Stadt, insbesondere jedoch die sieben Mitglieder
des Vorstands, die die Anatomie durchführen.
Vorweg: Schnetzlers Werk gehört sicherlich zu den Büchern,
die man mindestens zweimal lesen sollte. Es lohnt sich. Ausgehend von der
detaillierten Schilderung der Anatomie als solcher entrollt sich vor dem Leser
ein pralles Bild der Amsterdamer Gesellschaft um die Mitte des 17.
Jahrhunderts.
Eigentlich besteht der Vorstand der Gilde zur Zeit der
Anatomie aus acht Mitgliedern, denn der Vorsitzende, Prof. Dr. Frederik Ruysch,
befindet sich auf einer Ostasien-Exkursion und wird für die Zeit seiner
Abwesenheit durch den neu ernannten Dr. Bartolomäusz Kulp ersetzt. Acht
Kapitel hat auch das Buch, sieben davon je einem der Vorsteher gewidmet, aber
keines davon dem Dr. Kulp, sondern — was merkwürdig erscheint — das zweite ist
mit Lilith überschrieben, dem Namen einer jungen Witwe, die außereheliche
Beziehungen unterhält zu Dr. Hartman, der bei der aktuellen Anatomie den aus
unerfindlichen Gründen scheinbar abwesenden Dr. Kulp vertritt.
Im ersten Kapitel (Van Loenen) lässt der Autor den jungen Dr.
Frans van Loenen selber erzählen. Die folgenden Kapitel sind jeweils aus der
Perspektive der Figuren erzählt, die dem Kapitel den Namen geben, aber nicht
mehr in der Ich-Form. Was dabei entsteht, ist ein komplexes Bild jedes
Einzelnen, ihres Verhältnisses zueinander und der Amsterdamer Gesellschaft
insgesamt. In zahllosen Retrospektiven öffnet sich der Blick in die
verschiedenen Aspekte der jeweiligen Vorgeschichten und verdichtet sich zu
einem umfassenden Bild der Akteure, ihrer von Neid, Eitelkeit, Egoismus,
Dünkel und Intrigen geprägten Beziehungen und ihrer Zeit.
Ob Schnetzler durch moderne Zeiterscheinungen (wie von Hagens
Körperwelten oder die Filme Anatomie I und Anatomie II) zu seinem Thema
angeregt worden ist, sei dahingestellt. Die Namenswahl für die Zentralfigur
Dr. Kulp weist eher auf Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp (1632) hin.
Angesichts der Zeitlosigkeit seiner subtilen Charakter- und Milieustudien
bleibt die Frage letztlich ebenso belanglos wie die Tatsache, dass trotz des
durchgehenden Realismus der Darstellung Descartes hier noch 19 Jahre nach
seinem historischen Tode mitspielt und der obduzierte Verbrecher sich am Ende
als Wesen ohne Herz entpuppt. Spätestens dann wird auch deutlich: Das Buch ist
nicht nur ein sprachlich überzeugender und ein hervorragend recherchierter
historischer Roman, sondern gleichzeitig ein höchst raffinierter Krimi, der
auch Die Anatomie des Dr. Kulp (< lat. culpa) heißen könnte, wenn das nicht zu
viel verraten würde.
Insgesamt: Ein Lesevergnügen ersten Ranges.
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Kaspar Schnetzler: Die Gilde.
Roman. bilgerverlag, Zürich 2002. 320
Seiten. Gebunden. ISBN 3-908010-60-8. 25,80 €
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(Muschelhaufen 2004)
© Friedhelm Schmitz |