|
Guntram Vesper:
Maistraße
Die erste Autorenlesung, die ich gemacht
habe, fand in München statt. Ich lieh mir ein Auto, eine Blechkiste namens
Kadett, und fuhr von Gießen nach Bayern. Am späten Nachmittag kam ich in der
Maistraße an. Es war eine Hitzewoche im August vierundsechzig. Zwischen den
hohen hergerichteten Mietshäusern der besseren Sorte hingen die Abgasschwaden
des Großstadtverkehrs. Autos und Straßenbahnen lärmten durch die Schlucht. Ich
kannte Frohburg, Gießen, Friedberg, höchstens noch Westberlin von der Flucht
her, eine Stadt wie München war mir neu.
Im mittleren Stock des Hauses Nummer acht in der Maistraße kam eine junge Frau
an die Wohnungstür, Diemut Schnetz. Ich glaube, mich an ein Kärtchen über der
Klingel erinnern zu können: Literarisches Accubare. Ihr Mann sei gerade aus
dem Haus gegangen, in die Druckerei um die Ecke. In der engen Seitenstraße
konnte ich lange kein Firmenschild finden, ratlos ging ich an den Häusern
entlang, endlich entdeckte ich den kleinen Betrieb. Man trat in einen Torweg,
stieg ein paar Stufen hinauf und kam in einen Raum mit niedrigen Fenstern zur
Straße hin. Sonne auf den Tischen, es roch nach Druckerschwärze und Blei.
Stille. Ein großer schwerer Mann Mitte zwanzig im Gegenlicht, über den
Setzrahmen, die Buchstabenkästen gebeugt: Wolf Peter Schnetz.
Vier Stunden später, am Abend, las ich im Schnetzschen Wohnzimmer zwischen den
abgebeizten Möbeln vom Sperrmüll und den Biedermeierstücken der gutgestellten
Regensburger Großmutter meine Gedichte, darunter „An einen Freund“, und eine
mühsam gestammelte Umsetzung der Erlebnisse, die ich in Zusammenhang mit
unserem Weggang aus Frohburg gehabt hatte. Ich war gerade dreiundzwanzig
geworden. Die Zuhörer, die auf den Dielen saßen, an den Wänden lehnten,
hielten geduldig aus, nur manchmal ein Räuspern, ein kurzes Husten. Es gibt
ein Tonband des Abends: das Fenster stand offen, wegen der Hochsommerschwüle,
und man hört den Verkehr draußen und unten. Ich weiß noch, dass auch die
Großmutter da war, sie hat einen Zwanzigmarkschein auf den Sammelteller im
Flur gelegt. Nach Mitternacht machte mir Diemut Schnetz im Nebenzimmer, dessen
Tür man ausgehängt hatte, ein Lager zurecht, sie rollte einen Schlafsack aus.
In ihm hatten schon Günter Eich und Karl Krolow gelegen, was wollte ich mehr.
So habe ich Wolf Peter Schnetz kennengelernt. Noch im gleichen Jahr machten
wir ein Buch zusammen. Beide steuerten wir einen Zyklus Gedichte bei. Und von
Ludwig Meidner, dem Expressionisten, der nach dem englischen Exil
achtzigjährig in einer bescheidenen Einzimmerwohnung an einer Ausfallstraße in
Darmstadt lebte, wurde ein Aquarell reproduziert, das Schnetzens von dem
betagten Maler, dessen frühe Bilder heute Millionen bringen, bei einem Besuch
geschenkt bekommen hatten. Als das Buch herauskam, das heute im
Antiquariatshandel ein paar hundert Mark kosten kann, war mein Verleger und
Mitautor Münchner Student, er baute gerade die Junge Akademie, die
Maistraßenpresse auf, ein Besessener der Literatur, mir ganz ähnlich, das
wusste ich gleich.
(Muschelhaufen 2004)
© Guntram Vesper
|