Stefanie Golisch:

Mai
oder
Oktober

 

             GESTERN NACHMITTAG war Maria hier. Wir saßen in der Küche. Es ging ihr wieder einmal schlecht und natürlich musste ich, wie immer, dafür herhalten, mir das ganze Elend anzuhören. Draußen regnete es in Strömen, im Kinderzimmer war der Teufel los, und ich hatte eigentlich nur einen Kuchen backen wollen, das heißt, ich weiß es gar nicht mehr so genau, vielleicht hatte ich in Wirklichkeit auch gar keinen Kuchen backen wollen, sondern es war nur eine Ausrede gewesen, ein dummer Vorwand wie so oft —

Auf jeden Fall klingelte es plötzlich mitten in Marias haltloses Schluchzen hinein, die Situation war mir peinlich, und am liebsten hätte ich, zumal ich auf Besuch überhaupt nicht vorbereitet war, gar nicht aufgemacht, aber es ist doch immer wieder erstaunlich, wie schnell meine Freundin sich fangen kann, wenn es darauf ankommt, und so hörte ich sie unvermittelt in ihrem üblich rechthaberischen Ton zu mir sagen Nun geh schon, und wie immer gehorchte ich ihr aufs Wort, obwohl ich sie in diesem Augenblick hasste und wirklich nicht die geringste Lust hatte aufzustehen.

Vor der Tür stand ein Mann, den ich zuvor niemals gesehen hatte. Er sei neu im Haus, sagte er, und ob ich nicht zufällig den Schlüssel zum Dachboden hätte, er fehle ihm nämlich in seinem Bund, ob ich ihm aushelfen, ob ich ihm nicht einen Augenblick lang zuhören könne. Dabei sah er mich an, es verstrichen einige Sekunden, und dann hörte ich mich, als sei ich urplötzlich aus einem langen tiefen und traumlosen Schlaf erwacht, sagen Wieviel Uhr ist es eigentlich? Und er blickte auf seine Armbanduhr und antwortete ganz ruhig Viertel vor fünf. Und ich sagte Wenigstens die Uhrzeit sollten wir uns doch merken, oder nicht?

Aus der Küche hörte ich Maria, neugierig wie es nun einmal ihre Art ist, rufen Was ist denn los? Und dann hörte ich mich selber mit fester Stimme antworten Nichts Besonderes, ich bin gleich wieder da —

Es ist kühl draußen, sagte er, du solltest dir besser etwas überziehen. Also nahm ich ohne nachzudenken meine graue Strickjacke von der Garderobe, warf noch rasch einen gleichgültigen Blick in den Spiegel, grüßte das fremd-vertraute Bild, das er mir im Dämmerlicht des Korridors zurückwarf und zog die Tür mit einem Ruck hinter mir zu.

Derartige Dinge geschehen im Mai oder im Oktober, sagte er lächelnd, als wir nun auf die Straße traten, manchmal auch im November, aber seltener.

Was wolltest du mir denn eigentlich erzählen, fragte ich, und dabei sah ich ihn zum ersten Male richtig an. Ach, sagte er vage, es war wohl auch nur so eine Idee, ein Vorwand vielleicht, wie so oft, und es kommt mir jetzt geradeso vor, als hätte ich eigentlich gar nichts zu erzählen, nur dies. Und das weißt du ja schon. Und dann kann man es ja auch gar nicht erzählen. Es wäre ganz sinnlos, fügte er noch hinzu.

Dann gingen wir die Straße hinab bis zur nächsten Kreuzung, wir bogen erst links ab, dann rechts, wir überquerten die Brücke über den Rhein, es regnete noch immer, doch keiner von uns hatte einen Schirm dabei.

Also ich hatte eigentlich einen Kuchen backen wollen, heute Nachmittag, begann ich nun, das heißt, dann ist Maria auf einmal mit den Kindern vor der Tür gestanden, scheußliche Wesen in quietschbunten Jogginganzügen, sie hatte beschlossen, sich wieder einmal bei mir auszuheulen, und so bin ich zu überhaupt nichts mehr gekommen, die Kinder sind wie die Wilden durch die ganze Wohnung getobt, und mein Mann kommt normalerweise erst so gegen sieben nach Hause, im übrigen mag ich dieses Regenwetter, eigentlich finde ich nie irgendetwas selbstverständlich. Ich bin oft ärgerlich, finde mich selbst zu dick, meine Kinder zu laut, meinen Mann entschieden zu gleichgültig. Am meisten aber ärgere ich mich über Maria, über ihre ewigen Geschichten, über diese verlorenen Nachmittage, Oktober, sagtest du —

— Ich habe es gelesen, ich habe es auch nur gelesen: ich meine, dass die Wirklichkeit aufbrechen kann in jedem Augenblick oder so ähnlich. Ich weiß, es klingt höchst unwahrscheinlich. Vielleicht will man auch gar nicht darüber nachdenken, weil man es sonst sehr schnell mit der Angst zu tun bekommt —

Wenngleich wir sehr langsam gegangen waren, hatten wir inzwischen die Innenstadt erreicht, die Fußgängerzone war voller Menschen um diese Zeit, voller Menschen und bunter Regenschirme, voll geschäftigen Treibens, Einkäufe wollten noch rasch erledigt werden, ein neues Kleid, die Zutaten für ein erlesenes Abendessen oder eins auf die Schnelle, ein kleines Geschenk im allerletzten Moment, ein Blumenstrauß vielleicht, man weiß, wie das ist —


 

„…voller Menschen und bunter Regenschirme…“
Illustration von Martin Lersch


Es ist nicht Angst, sagte ich nun, ich glaube nicht, dass es eigentlich Angst ist, vielmehr denkt man wohl kaum je darüber nach, ich meine, es ist so ganz und gar unwahrscheinlich, und man hat uns doch immer gesagt, schon als Kinder gelehrt, dass es nicht geht, und am Ende glaubt man das eben und denkt einfach nicht mehr darüber nach. Stell dir vor, ich wollte einen Kuchen backen heute Nachmittag, und war ärgerlich, dass Maria plötzlich aufgetaucht ist und mich gestört hat, ein kleiner Traum wäre dabei vielleicht in die Schokoladenmasse gerieselt wie nebenbei, nicht mehr. Aber ich habe ja auch gelernt, mich rasch zufrieden zu geben und nicht weiter darüber nachzudenken, schau dich doch um —

— Ich schaue mich um, aber ich sehe nichts, das mich jetzt noch interessieren könnte. Ich meine, es interessiert mich, wie einen die Vergangenheit interessiert, weil man Bescheid wissen will, aber es hat nichts mehr mit mir selbst zu tun und mit dir —

— Natürlich hat es das nicht, das ist jetzt vorbei —


Dabei sah ich ihn an. Wir hatten nun — war es Zufall? — den Bahnhof erreicht, und er fragte mich, ob ich einen Wunsch hätte, ob es einen Ort gäbe, an den ich besonders gerne fahren würde, einen Ort, an dem ich noch niemals gewesen sei etwa. Ich antwortete ihm, dass mir im Grunde alles recht sei, und er ging, um die Fahrkarten zu kaufen. Als er zurückkam, ich hatte am Zeitschriftenkiosk auf ihn gewartet, sagte er Der nächste Zug fuhr nach Freiburg. Ist das in Ordnung?

Es ist in Ordnung, antwortete ich, in Ordnung in dem Sinne, dass es keine Bedeutung mehr hat, wohin wir eigentlich fahren. Er lächelte, nahm meine Hand und sagte Komm, wir wollen uns beeilen, sonst verpassen wir womöglich noch den Zug —

Als wir dann unsere Plätze gefunden hatten und der Zug endlich anfuhr, kam plötzlich eine große Müdigkeit über mich. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich an zu Hause, das Bild meines Mannes, der bald von der Arbeit kommen und eine aufgelöste Maria vorfinden würde, eine Horde lärmender Kinder und kein Abendessen, flog an meinem geistige Auge vorbei und verschwand ebenso rasch wieder wie es gekommen war. Ich musste ein wenig lachen. Ein klein wenig nur, etwa so, wie man lacht über einen tieftraurigen Clown. Ich war müde. Todmüde. Konnte nicht mehr nachdenken über diesen Nachmittag und darüber, wie alles gekommen war.

Ich möchte nun schlafen, sagte ich zu ihm, und er sagte nur Schlaf. Dabei zog er ganz langsam meinen Kopf an seine Schulter. Bis Freiburg sind es ungefähr vier Stunden, hörte ich ihn noch sagen.

Dann schlief ich ein.

 

(Muschelhaufen 2004)
© Stefanie Golisch

 

 

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